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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Vogelfrei, wenn Sie so wollen. Aber Gott hatte andere Pläne mit ihm. Hier, es steht einige Zeilen darunter. Der Herr sprach zu ihm: Wer Kain totschlägt, das soll siebenfaltig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände. «
    Cendrine stützte sich mit beiden Händen auf den Tresen. »Gott hat Kain also dazu verflucht, für immer und ewig über die Welt zu wandern, ohne sterben zu können, und ohne die Hoffnung, daß ein anderer ihn von diesem Dasein erlöst.«
    Haupt nahm den Blick von den Seiten seiner Bibel und sah Cendrine in die Augen. »Theoretisch bedeutet das Unsterblichkeit. Faktisch, ewige Verdammnis.«
    »Was geschah dann?«
    »Das, worüber wir eben schon sprachen. Kain ging nach Nod, zeugte Henoch und erbaute die Stadt gleichen Namens. Damit verschwindet er aus den Seiten der Heiligen Schrift. Kein Wort mehr über sein weiteres Schicksal.«
    »Täusche ich mich, oder gibt es da einen Widerspruch?«
    »Welchen meinen Sie? Die Bibel ist voll davon.«
    »Kain und Abel waren doch bis dahin die beiden einzigen Kinder, die Eva gebar, nicht wahr?«
    Haupt nickte. »Es kamen später noch einige andere dazu – der gute Adam wurde schließlich neunhundertdreißig Jahre alt, wenn wir dem Alten Testament Glauben schenken wollen –, aber, ja, bis zum Zeitpunkt von Abels Tod waren Kain und Abel seine einzigen Kinder.«
    »Woher kam dann die Frau, mit der Kain seinen Sohn zeugte?« fragte Cendrine. »Gibt es dafür irgendeine Erklärung?«
    Der alte Mann sah beeindruckt aus. »Sie haben gut zugehört.«
    » Gibt es eine Erklärung?« wiederholte sie beharrlich.
    »Nicht in der Bibel. Aber es hat natürlich Spekulationen gegeben. Eine ganze Reihe von Theologen hat sich mit dieser Frage befaßt, natürlich nicht in der Öffentlichkeit und gewiß nicht mit dem Segen der Kirche. Dennoch hat man eine Antwort auf diese Frage gefunden.«
    Eine Weile lang herrschte atemloses Schweigen. Dann dämmerte es Cendrine, und sie flüsterte: »Eva.«
    Er nickte. »Ziemlich gewagt, nicht wahr? Erst verfällt Eva den Lockungen der Schlange und sorgt so dafür, daß Gott sie und Adam aus dem Garten Eden wirft. Und dann, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, verläßt sie ihren Mann und zieht mit ihrem verstoßenen Sohn davon. Schlimmer noch, sie empfängt ein Kind von ihm.«
    »Gibt es dafür irgendwelche Beweise?«
    Haupt klopfte lächelnd auf den geschlossenen Bibeldeckel.
    »Beweise gibt es für so gut wie nichts, was Sie hier drin finden. Das Zauberwort heißt glauben. Glauben Sie daran oder nicht, aber verlangen Sie niemals Beweise.« Er legte das Buch auf die Glasplatte des Tresens, über ein Negligé aus roter Spitze. »Fest steht, daß Eva nach der Geburt von Kain und Abel nicht mehr erwähnt wird. Später, wenn Adam seinen dritten Sohn, Seth, zeugt, ist nur von ›seinem Weib‹ die Rede, aber es wird nie beim Namen genannt.«
    Cendrine schwirrte allmählich der Kopf von so vielen biblischen Gestalten und Ereignissen. Es erstaunte sie, wie gut Haupt über all das Bescheid wußte. Schließlich hatte er seine Ausbildung durch die Kirche erhalten, und die predigte gewiß keinen Ehebruch Evas mit ihrem eigenen Sohn.
    Aber was, wenn sie wirklich einmal für einen Moment davon ausging, alles, was Haupt gesagt hatte, wäre die Wahrheit? Gewiß, es war albern, aber was wäre, wenn? Welche Strafe hätte Gott wohl über zwei Menschen verhängt, die ihn nicht nur einmal, sondern gleich zweifach hintergangen hatten? Eva hatte den Apfel im Garten Eden gepflückt, Kain hatte seinen Bruder ermordet – und gemeinsam hatten sie Adam betrogen und sich damit gegen Gottes Gebote versündigt. Welchen Fluch hatte der Herr über dieses Paar verhängt? Was konnte schlimmer sein als die ewige Wanderschaft, die Gott Kain bereits auferlegt hatte?
    »Was sagt die weltliche Wissenschaft dazu?« fragte Cendrine.
    »Für sie ist Kain natürlich nur ein Mythos«, entgegnete Haupt. »Nichtsdestotrotz ist er von größter Wichtigkeit. Er zeigt den Menschen, wie wichtig es ist, die Verantwortung für ihr eigenes Tun zu übernehmen. Nach dem Mord an Abel stellt Kain sich nicht hin und sagt zu Gott: ›Du trägst die Schuld daran, denn du hast mich erschaffen‹. Nein, so einfach macht es uns die Bibel nicht. Kains Schuld liegt allein bei ihm selbst, und dementsprechend fällt seine Strafe aus. Das Böse, vorher nur in Gestalt einer Schlange präsent, irgendeine unbestimmbare überirdische Macht, wird durch

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