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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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daß Kain ihn mit einer Frau zeugte, deren Name nie genannt wird. Vom zweiten Henoch ist immerhin bekannt, daß er dreihundertfünfundsechzig Jahre alt wurde.« Haupt schmunzelte. »Aber, glaubt man der Heiligen Schrift, war das damals nicht weiter ungewöhnlich. Henochs Vater Jared wurde sogar achthundert.«
    Cendrine zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. »Aber Henoch war doch nicht nur der Name einiger biblischer Figuren, oder?«
    »So«, entfuhr es Haupt mit erhobenen Augenbrauen, »dann meinen Sie gewiß die Stadt, die Kain im Lande Nod erbaute.«
    »Nod?« wiederholte sie stirnrunzelnd.
    »Ja«, sagte Haupt, »nachdem Kain seinen Bruder Abel erschlagen hatte und von Gott dafür mit Unsterblichkeit bestraft worden war, zog er fort ins Land Nod, wo seine Frau seinen ersten Sohn, Henoch, gebar. Daraufhin gründete Kain besagte Stadt und benannte sie nach seinem Sohn. Eine nette Geste, finden Sie nicht? Mir fällt kein anderer Städtebauer ein, der das getan hätte.«
    »Dieses Land Nod, wo soll das liegen?«
    »Darin ist die Bibel ebenso ungenau wie in den meisten anderen Dingen.« Er lächelte wieder. » Jenseits Eden, gegen Morgen, heißt es. Ich fürchte, das muß Ihnen genügen.«
    »Sie wirken nicht besonders überzeugt von alldem«, bemerkte Cendrine.
    »Ach, sehen Sie, wenn Sie die Existenz Henochs und Kains akzeptieren wollen, müssen Sie auch die Existenz Adams und Evas akzeptieren. Außerdem die des Gartens Eden. Und den Sündenfall mit all seinen Folgen. Können Sie das?«
    »Sie waren Priester, nicht ich.«
    »Muß ich deshalb jedes Wort in der Heiligen Schrift für bare Münze nehmen?« Er schüttelte den Kopf, als wollte er eine Unzufriedenheit austreiben, die er längst vergessen geglaubt hatte. »Ich denke, wir haben es hier mit Symbolen zu tun, mit Metaphern und Platzhaltern. Alles ist frei zur Interpretation. Das ist meine Überzeugung.«
    Cendrines Gedanken überschlugen sich. Das Land Nod, jenseits von Eden, gegen Morgen. Das mochte alles und nichts bedeuten.
    Haupt bemerkte ihr Schweigen und sagte nach einer Weile: »Kann ich Ihnen noch irgendwie weiterhelfen?«
    Sie schrak aus ihren Überlegungen auf und nickte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    »Sie sehen doch, wie groß der Kundenansturm ist«, bemerkte er mit einem Augenzwinkern. »Nein, nein, mein Fräulein, ich habe alle Zeit der Welt. Fragen Sie mich, was Sie möchten.«
    »Was wissen Sie über Kain? Ich meine, mir ist klar, daß er der Sohn Adams und Evas war und seinen Bruder erschlug. Aber gibt es darüber hinaus noch mehr über ihn zu erfahren?«
    »Das hängt ganz davon ab, wen Sie fragen. Die Kirche ist darauf bedacht, Kains Stellenwert in der Geschichte des Glaubens und der Menschheit so gering wie möglich zu halten. Aber viele sind da ganz anderer Meinung.«
    »Inwiefern?«
    »Sie dürfen nicht vergessen, daß Kain der erste Mensch war, der aus eines Menschen Schoß geboren wurde. Und zugleich war er der erste Mörder. Eine Übereinstimmung, die vielleicht eine ganze Menge über uns alle aussagt.«
    »Warum hat Kain Abel getötet?«
    »Kain war ein Bauer, der den Acker bestellte, während Abel als Schäfer die Schafe hütete. Als beide Gott ein Opfer darbrachten, nahm der Herr Abels Schaf huldvoll entgegen, hatte aber für Kains Getreide nicht einmal einen Blick übrig. Als Kain darüber zornig wurde, warf Gott ihm vor, er sei der Sünde verfallen und müsse versuchen, sie zu beherrschen. Kain aber ging mit seinem Bruder hinaus aufs Feld und erschlug ihn in seiner Wut und Eifersucht.« Haupt verstummte, runzelte die Stirn und sagte dann: »Ich wünschte, ich hätte noch den Wortlaut parat. Warten Sie einen Augenblick.«
    Er drehte sich um und verschwand durch eine schmale Tür im hinteren Teil des Ladens. Cendrine versuchte, einen Blick hindurch zu erhaschen, doch Haupt zog die Tür geschwind hinter sich zu. Zwei Minuten später kehrte er zurück, in seiner Hand eine Bibel.
    »Fast hätte ich vergessen, wo sie liegt«, sagte er ein wenig beschämt.
    »So, nun lassen Sie uns einmal nachsehen … Ah ja, hier ist es. Erstes Buch Mose, viertes Kapitel. Gott sprach zu Kain: Was hast du getan? Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain glaubte, dies bedeute, daß ihn fortan jedermann jagen und nach eigenem Gutdünken erschlagen könne.

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