Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
doch sie hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten. Vor ihren Augen versank Henoch in den Tiefen der Wüste, und bald ließ nichts mehr darauf schließen, daß sie je hier gestanden hatte.
    Die Landschaft veränderte sich mit rasender Geschwindigkeit. Dünen wuchsen empor, rollten über die Ebene, schufen neue Täler und Hügelketten. Doch auch diese vergingen, wurden geglättet, bis sich der Horizont wie ein straffes Seil durch die weißglühende Ferne zog.
    Mit letzter Kraft stemmte Cendrine ihren Oberkörper hoch, bis sie wieder auf den Knien hockte. Das Panorama war ein gänzlich anderes geworden, endlos und glatt, eine flirrende Fläche unter dem verwaschenen Blau des Himmels. Die Helligkeit war überwältigend, und Cendrine blinzelte, um überhaupt etwas zu erkennen.
    Unmittelbar neben sich entdeckte sie ihre Fußspuren im Sand. Sonderbar, daß sie nicht mit den Dünen fortgeweht worden waren. Und noch etwas war merkwürdig: Die Spuren führten an ihr vorbei, führten weiter geradeaus, in das gleißende Herz der Wüste.
    Das waren nicht ihre eigenen Spuren! Konnten gar nicht ihre eigenen sein! Noch jemand war in der Nähe, war eben erst an ihr vorbeigelaufen.
    Sie hatte den Gedanken kaum beendet, hatte gerade erst begriffen, was ihre Entdeckung bedeutete, als sich das Licht vor ihr verdunkelte. Ein Schatten schoß auf sie zu, fiel über ihr Gesicht. Vor ihr stand eine hohe Silhouette, dunkel im Kern, aber mit flirrenden Rändern; es sah aus, als nage die Helligkeit wie ein glühendes Ameisenheer an den Umrissen der Gestalt.
    Folge mir, erklang es in ihren Gedanken. Die Stimme eines Mannes.
    Die Silhouette entfernte sich wieder, wurde rasch kleiner. Cendrine erkannte, daß die Gestalt weite Gewänder trug, flatternd, flüsternd auf den Böen des Wüstenwindes. Je weiter sich der Mann entfernte, desto heller wurde er, bis er kein dunkler Umriß mehr war, sondern ein Wanderer in weißen Stoffen. Er schaute sich nicht zu ihr um, und dennoch hörte sie ihn rufen: Folge mir.
    Sie stand auf. Es fiel ihr jetzt leichter. Ihre Füße versanken nur noch bis zu den Knöcheln. Erst zögernd, dann immer schneller folgte sie den Spuren des Mannes im Sand.
    Sie spürte etwas in ihrem Rücken, einen kaum merklichen Sog, der mit ihren Haaren spielte. Unsichtbare Finger, die sich von hinten auf ihre Schultern legten, daran zogen, sie zurückhielten.
    Weit vor ihr schritt der Mann immer schneller aus, entfernte sich zusehends. Spürte er denn nicht den Sog im Rücken?
    Widerwillig drehte Cendrine sich um. Sehr langsam, in der Erwartung eines neuen Übels, schaute sie über ihre Schulter. Was sie sah, übertraf all ihre Ahnungen.
    Himmel und Wüste waren in einem Chaos aus Sand und Schatten miteinander verschmolzen, während Mächte jenseits des menschlichen Begriffsvermögens ihnen Gewalt antaten. Ein Wirbelsturm, so hoch wie die Sterne, zerriß das Gefüge der Welt, ein schlauchförmiger Turm, der sich wand und schlängelte und sich oben zu einem kreisenden Trichter weitete, viele Kilometer über der Wüste. Das Zentrum des Sturms, jene scheinbar winzige Stelle, an der seine Spitze den Boden berührte, war noch weit, weit entfernt, doch die breiten Ausläufer des Trichters tobten bereits hoch über Cendrines Kopf.
    Folge mir, raunte die Stimme des Wanderers in ihren Gedanken.
    Sie riß sich vom Anblick der majestätischen Zerstörung los und schüttelte die Benommenheit ab, die sich wie eine Trance über ihr Bewußtsein gelegt hatte. Verwirrt schaute sie der Gestalt in ihren wogenden weißen Gewändern nach.
    Der Wanderer war winzig geworden, so weit entfernt, daß Cendrine ihn kaum mehr erkennen konnte. Ungerührt schritt er durch den Sand, den ahnungslosen fernen Ländern entgegen, während hinter ihm der Wirbelsturm toste, seiner Spur folgte, ihrer Spur folgte.
    Der Sog wurde immer stärker. Als sie dem Befehl des Wanderers endlich gehorchen wollte, war es längst zu spät. Die Vorboten des Tornados, viele Tagesmärsche von seinem Zentrum entfernt, klammerten sich an ihr fest. Geister aus Wind, die sie zurückhielten, an ihren Haaren und Gliedern rissen und sie mit gespreizten Armen und Beinen vor eine Mauer aus aufgewühlter Luft spannten wie ein Pferd vor einen Karren.
    Folge mir, rief der Wanderer, aber schon zerfaserten die Silben zu einem Säuseln, das allmählich lauter wurde, schriller, heftiger.
    Der Sturm kam näher, raste jetzt über die Wüste auf Cendrine und die weiße Gestalt zu … ein tödlicher Minotaurus

Weitere Kostenlose Bücher