Göttin des Frühlings
Zähne aufeinander. Diese Frau flirtete tatsächlich mit Hades!
Nun wurde ihre Stimme zu einem Schmollen. »Es war ein tragischer Unfall. Muss ich bis in alle Ewigkeit dafür büßen?«
»Was hast du gelernt, während du an den Ufern des Acheron entlanggestreift bist?«, fragte Hades unvermittelt.
Stheneboia überlegte, ordnete vorsichtig ihre Gedanken. Als sie sprach, schnurrte sie fast.
»Ich habe gelernt, dass ich eine unkluge Entscheidung getroffen habe. Ich werde es nicht wieder tun, Herr der Unterwelt.«
Hades kniff die Augen zusammen. Seine tiefe Stimme klang ernst. »Dann hast du nur wenig gelernt. Du begehrtest Bellerophon, einen Jungen, bloß halb so alt wie du. Als er deine Avancen zurückwies, logst du deinem Gatten vor, Bellerophon hätte versucht, dich zu vergewaltigen. Zum Glück vereitelte Athene seinen Versuch, den jungen Mann umzubringen. In ihrer Weisheit gab die Göttin Bellerophon deiner jüngeren Schwester. Sie hat ihn mehr verdient als du.«
»Dieses schüchterne Mäuschen hat Bellerophon überhaupt nicht verdient!« Wut verzerrte die attraktiven Gesichtszüge und machte Stheneboia hart und grausam.
Hades fuhr fort, als hätte er nichts gehört. »Du hattest nicht vor, dich umzubringen, das weiß ich. Du wolltest lediglich deiner Familie Angst einjagen und ihr Schmerz und Kummer bereiten, damit sie Athenes Vorschlag verwarf und Bellerophon in Schimpf und Schande davonjagte. Es war dein Pech, dass dein Hausmädchen verschlief und dich erst fand, als du schon verblutet warst.«
Stheneboia löste ihren Blick von den durchdringenden Augen des Gottes. Sie legte sich die kühle weiße Hand auf die Stirn, als hätten seine Worte sie durcheinandergebracht.
»In meinem nächsten Leben werde ich eine klügere Entscheidung treffen«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Wo ist deine Reue, Stheneboia?«, fragte Hades mit eiserner Härte. »Du hast versucht, Liebe mit Lügen und Schlichen zu erzwingen. Bei so viel Gift geht die Liebe zugrunde.«
»Aber du verstehst nicht.« Der Geist klang verzweifelt. »Ich wollte ihn so sehr. Er hätte mich begehren müssen. Ich war immer noch schön und begehrenswert.«
»Bei so viel Gift geht die Liebe zugrunde«, wiederholte Hades. »Lust und Begierde sind nur ein kleiner Teil der Liebe, aber das ist eine Weisheit, die du noch lernen musst.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Ich versage dir deine Bitte, Stheneboia. Stattdessen befehle ich dir, an das Ufer des Acheron zurückzukehren, den Fluss des Leids. Wenn du dich dort länger aufhältst, wirst du vielleicht irgendwann dein Herz für mehr öffnen können als für deine eigenen selbstsüchtigen Wünsche. Bitte erst wieder darum, vorgelassen zu werden, wenn ein weiteres Jahrhundert vergangen ist.«
Stheneboias Lippen öffneten sich zu einem wortlosen Schrei. Ein heftiger Wind rauschte in den Saal und umschwirrte sie wie ein kleiner Tornado, hob sie empor und trug sie davon.
Iapis wollte den Speer auf den Boden stoßen, um den nächsten Geist vorzulassen, doch Hades’ erhobene Hand ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. Der Gott wandte sich an Lina.
»Was hältst du von meinem Urteil?«, fragte er.
»Ich fand es weise«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Ich kenne ja nicht die ganze Geschichte, aber nach dem, was ich mitbekommen habe, hat die Frau etwas Furchtbares getan, und es hat ihr auf jeden Fall nicht leidgetan. Das hat mich aber auf eine Frage gebracht.«
Hades nickte, damit Lina fortfuhr.
»Wenn sie von Lethe tränke, würde sie dann ihr gesamtes bisheriges Leben vergessen?«
»Ja«, sagte Hades.
»Aber wäre sie dann immer noch dieselbe Person? Ich meine, wird dadurch alles auf null gestellt, oder bleibt immer noch ein Rest des alten Ichs zurück?«
»Eine hervorragende Frage«, sagte Hades mit sichtlicher Anerkennung. »Wenn ein Geist von Lethe trinkt, werden alle Erinnerungen komplett ausgelöscht, und die Seele wird im Körper eines Säuglings wiedergeboren. Die Seele kann aber nicht anders, als einige Elemente der Persönlichkeit beizubehalten. Letztendlich ist der Körper nur eine Hülle; es ist die Seele, die den Mann oder die Frau ausmacht, den Gott oder die Göttin.«
»Dann war deine Entscheidung umso weiser. Stheneboia wäre wiedergeboren worden und hätte den Nächsten unglücklich gemacht.«
»Ihr ganzes Leben gründet auf Lügen – am meisten hat sie sich selbst in Bezug auf ihren Charakter belogen. Ihre Seele sehnt sich nicht nach Reichtum oder Luxus, sie sehnt sich
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