Göttlich verdammt - Angelini, J: Göttlich verdammt
daran zu erinnern.
Helen versuchte, zum Frühstück einen Fruchtjoghurt zu essen, aber da sie null Appetit hatte, packte sie ihre Lunchbox erst gar nicht ein. Falls sie wirklich Hunger bekam, konnte sie sich in der Cafeteria immer noch etwas Magenfreundliches kaufen.
Als sie zur Schule radelte, musste sie feststellen, dass es nunschon den zweiten Tag unerträglich heiß und schwül war. Als sie ihr Fahrrad anschloss, fiel ihr auf, dass sich kein Lüftchen regte und auch keine Vögel zu sehen oder zu hören waren. Alles war unnatürlich still – als wäre die ganze Insel ein riesiges Schiff, das bei Flaute irgendwo in den Weiten des Ozeans herumdümpelte.
Helen war früher in der Schule als am Tag zuvor und die Flure waren bereits überfüllt. Claire sah sie hereinkommen. Als sie zu lächeln begann, wusste Helen, dass sie ihr verziehen hatte. Claire drehte um und kämpfte sich gegen den Strom zu ihr durch, damit sie zusammen zur morgendlichen Versammlung gehen konnten.
Als sie aufeinander zugingen, hatte Helen plötzlich das Gefühl, durch zähflüssigen Sirup zu waten. Sie blieb stehen. Es kam ihr vor, als wären alle Schüler auf einen Schlag verschwunden. Helen hörte das Schlurfen nackter Füße und ein keuchendes Schluchzen.
Sie fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um eine staubig weiße Gestalt mit hängenden und bebenden Schultern um die Ecke verschwinden zu sehen. Helen sah, dass die schluchzende Frau hinter einer anderen Gestalt verschwunden war – einem echten Menschen, der sie anstarrte. Es war ein zierliches Mädchen mit dunklem Teint und einem langen Zopf, der ihm über die Schulter hing. Seine roten Lippen waren zu einem überraschten »Oh« verzogen. Helen fand, dass sie beinahe aussah wie eine Porzellanpuppe, denn sie war so perfekt, dass sie unmöglich echt sein konnte.
Dann schaltete sich plötzlich der Lärm wieder ein, und der Flur war erneut voller Schüler, die eilig irgendwo hinstrebten. Helen stand immer noch wie angewurzelt da und hielt den Verkehr auf. Sie starrte den glänzenden schwarzen Zopf an, der auf dem Rücken des kleinen Mädchens hin und her schwang, als es in einem der Klassenräume verschwand.
Helens ganzer Körper bebte, so wütend war sie.
»Meine Güte, Len! Kippst du gleich um?«, fragte Claire besorgt.
Helen zwang sich, Claire anzusehen, und holte zittrig Luft. Sie war schweißgebadet und zitterte.
»Ich bringe dich zur Schulschwester«, sagte Claire. Sie nahm Helens Hand und wollte ihre Freundin hinter sich herziehen. »Matt«, rief sie über Helens Schulter. »Kannst du mir mit Lennie helfen? Ich glaube, sie wird gleich ohnmächtig.«
»Ich werde nicht ohnmächtig«, fauchte Helen, die plötzlich wieder hellwach war und merkte, wie merkwürdig sie sich verhielt.
Um die Grobheit ihrer Worte abzumildern, lächelte sie die beiden verlegen an. Matt hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt, doch Helen tätschelte leicht seine Hand, um ihm zu sagen, dass er sie jetzt loslassen konnte. Er sah sie zweifelnd an.
»Du bist total blass und hast Ringe unter den Augen«, stellte er fest.
»Mir ist auf dem Rad ziemlich warm geworden«, begann sie zu erklären.
»Erzähl mir nicht, dass es dir gut geht«, fuhr Claire sie an. In ihren Augen standen bereits Tränen und Matt sah auch nicht glücklicher aus. Helen war klar, dass sie nicht einfach so tun konnte, als wenn nichts wäre. Aber selbst wenn sie verrückt wurde, durfte sie es nicht an ihren Freunden auslassen.
»Nein, du hast recht. Ich glaube, ich habe einen Hitzschlag.«
Matt nickte und akzeptierte diese Erklärung als die einzig logische. »Claire, geh du mit ihr in den Waschraum. Ich sage Hergie, was los ist, damit er euch keinen Eintrag fürs Zuspätkommen verpasst. Und du solltest etwas essen. Du hattest gestern schon kein Mittagessen«, ermahnte er Helen.
Sie war ein wenig verblüfft, dass er sich daran erinnerte, aber Matt war gut darin, sich kleine Details zu merken. Er wollte Anwalt werden, und sie war überzeugt, dass er eines Tages ein sehr guter sein würde.
Claire weichte Helen im Waschraum großzügig ein und kippte ihr kaltes Wasser über den ganzen Rücken, obwohl sie ihr eigentlich nur den Nacken benetzen sollte. Natürlich wurde daraus eine riesige Wasserschlacht, was Claire zu beruhigen schien, weil es die erste normale Reaktion war, die Helen seit ein paar Tagen gezeigt hatte. Helen hatte das Gefühl, irgendeine Erschöpfungsgrenze überschritten zu haben, und fand jetzt auf einmal alles
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