Gold und Stein
unauffällig. Sie waren in etwa von derselben Größe, allerdings hatte er bereits einen leicht hervorquellenden Leib, der auf viel zu dünnen, langen Beinen thronte. Das hoben der enge, elegante Rock und die ebenfalls eng sitzenden Strumpfhosen gut hervor.
Er bemerkte ihren Blick, deutete ihn jedoch falsch und begann hastig, Staub und Schmutz aus Rock und Hosen zu klopfen. Beim Hinunterbeugen fiel das dunkelblonde, glatte Haar wie ein dichter Helm vor sein Gesicht. Das schwarze Barett rutschte nach vorn. Jäh richtete er sich auf und rückte es mittig auf den Kopf. Ihr fiel auf, wie massig sein Kopf wirkte. Das rührte von dem kurzen, nicht minder mächtigen Hals. Verblüfft stellte sie fest, dass auch er ein helles Halstuch trug. Unwillkürlich fasste sie an ihres. Zeitgleich richtete er sein Tuch und zwinkerte ihr aus bernsteinfarbenen Augen vergnügt zu. Dieselbe Augenfarbe hatte sie! Neugierig musterte sie ihn weiter. Sein breites Gesicht war von einer erstaunlich schmalen, langen Nase mit einem auffälligen Höcker beherrscht. Beim Lächeln verlor diese Unebenmäßigkeit an Gewicht. Die von spärlichem Bartflaum bedeckte Mundpartie war trotz der breiten Knochen wohlgeformt. Etwas daran, wie er lächelte und ihr zuzwinkerte, kam ihr bekannt vor. Es war, als wären sie einander seit Urzeiten vertraut. Gleich fühlte sie sich gut bei ihm aufgehoben. Sie erschrak über sich selbst. Was würde Laurenz davon halten? Am besten, sie verabschiedete sich rasch von dem Fremden.
Er kam ihr jedoch zuvor: »Darf ich Euch ein Stück des Weges begleiten? Wenn wir noch länger hier stehen, machen wir uns wenig Freunde.«
Seine Stimme war melodisch. Im Rhythmus des Sprechens wippte er auf den Fußspitzen und wies mit dem Kinn zu der Schlange der Wartenden. Von neuem überflutete sie eine Woge der Zuneigung. Statt die Gelegenheit zu ergreifen und sich zu verabschieden, stimmte sie zu: »Oh ja, sehr gern«, und folgte ihm die Langgasse hinunter zum Altstädter Markt. Der Wind schien auf einmal weniger eisig als vorhin im Löbenicht. Selbst das Grau der Wolken lichtete sich, gelegentlich spitzte ein Sonnenstrahl durch. Der Regen hatte sich verzogen. Tiefe Zufriedenheit erfüllte Agnes.
14
I n Agathas ebenerdig gelegener Werkstatt herrschte munteres Treiben. Das frühe Herbstwetter war noch einmal einem beeindruckenden Spätsommer gewichen. Durch die beiden Fenster zur Straße fiel gleißendes Vormittagssonnenlicht. Weit standen die Flügel offen. Herber Malzgeruch aus der unteren Stadt zog herein, mischte sich mit dem Duft sonnenwarmen Holzes und reifen Obstes, das in einer Schale auf dem Tisch stand. Aus den benachbarten Werkstätten klangen die Geräusche fleißigen Tuns herüber: Rechter Hand klopfte ein Gürtler seine Messing- und Bronzeschließen, linker Hand war das Rattern eines Webstuhls zu hören, und aus der Ferne dröhnte das Schlagen der eisernen Reifen aus einer Böttcherwerkstatt herauf. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß der Gewandschneider auf dem Fenstersims und nähte fleißig an einem bunten Rock.
Der leichte Ostwind wehte das Läuten vom Turm der Barbarakirche herüber. Längst hatte Agnes vergessen, wie lange sie schon am Fensterrahmen lehnte und nach draußen starrte. Seit Tagen fiel es ihr schwer, sich auf eine Tätigkeit zu besinnen. Kaum hatte sie mit etwas begonnen, flogen ihre Gedanken wie muntere Spatzen im Frühling davon. Früher oder später landeten sie bei Caspar, dem jungen Kaufmann aus der Altstadt. Die Erinnerung an seine ansteckende Fröhlichkeit ließ sie schmunzeln. Unwillkürlich spielte sie mit den Enden ihres Halstuchs. Eine knappe Woche war vergangen, seit sie am Altstädter Tor zusammengestoßen waren. Für eine zweite Begegnung hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben. Agatha hatte eine Ausnahmeerlaubnis für zusätzliches Brauen erhalten. Seit Tagen war Agnes lediglich zur Messe in Sankt Barbara aus dem Haus gekommen. An diesem Vormittag legten sie endlich eine Pause ein. Hoffentlich stand dafür bald ein neuer Botengang in die Altstadt an. Ob sie Caspar jemals wiederfand? Seinen Familiennamen hatte er nicht verraten, lediglich, dass er nachmittags öfter zur Altstädter Holzwiese musste. Er hatte sie weder nach ihrem Namen noch nach ihrer Herkunft gefragt. Ihr wurde bang. Zugleich schämte sie sich ihrer Treulosigkeit. Angestrengt versuchte sie, sich auf Laurenz zu besinnen. Fünf Wochen war er nun schon fort und schickte seine Briefe lediglich an die Muhme. Auf
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