Gold und Stein
Sinnen? Zurück an die Arbeit! Passt mir bloß auf, dass ihr keine von den Borten verderbt. Sonst gibt es bis Weihnachten nur noch Gerstenbrei zu löffeln, ohne süßes Mus.«
Flugs stand sie am Tisch, besah sich die Spulen mit den Garnen und die fertigen Bänder. Erleichtert, dass sie keinen Schaden genommen hatten, wandte sie sich um und musterte nun mit strengem Blick die Mägde. Als sie Maries verschmutztes Kleid entdeckte, schüttelte sie missbilligend den Kopf, enthielt sich jedoch einer Bemerkung.
»Der Erfolg mit dem Bier hat dich wohl übermütig werden lassen«, sagte sie zu Agnes. »Wahrscheinlich hast du in den letzten Tagen zu lang die heißen Dämpfe aus der siedenden Würze eingeatmet. Komm besser mit. Mir fällt schon was ein, um dir den Kopf wieder zurechtzurücken.«
Agnes holte Luft. Konnte es wahr sein, dass sie für den Streit der Mägde büßen musste? Empört drehte sie sich zu den beiden um. Marie stand weiterhin mit gesenktem Antlitz da. Theres fasste sich ein Herz und trat der Muhme entgegen.
»Sie war es nicht, Meisterin. Marie und ich haben uns gegenseitig geneckt, bis wir …«
»Ich weiß«, winkte Agatha ab. Längst hatte sich ihr verärgerter Gesichtsausdruck in ein Schmunzeln verwandelt. »Schließlich seid ihr schon einige Jahre länger bei mir, und das ist leider nicht das erste Stück Obst, das durch die Werkstatt fliegt. Manchmal frage ich mich, was ich mir mehr wünschen soll: dass eine von euch endlich doch einen Burschen findet, der ihr gut genug zum Heiraten ist, oder dass ihr in ein Alter kommt, in dem ihr der Liebeshändel von allein überdrüssig seid. Komm, Liebes«, packte sie Agnes am Arm. »Schnell fort von hier, sonst wirst du mir noch ganz verdorben.«
Damit zog sie sie hinter sich her in die Diele. Die Mägde beeilten sich, wieder an die Arbeit zu gehen.
»Ein bisschen frische Luft wird dir nicht schaden«, stellte Agatha fest, nachdem sie die Tür zur Werkstatt geschlossen hatte. »Lauf in den Kneiphof. Am anderen Ende der Langgasse, kurz vor dem Grünen Tor, gibt es einen Krug, den Grünen Baum. Erkundige dich bei den Wirtsleuten, wie viel Bier sie haben wollen. Über Mohr haben sie gestern angefragt. Zwei Fässer könnte ich ihnen nächste Woche liefern.«
Agnes nickte erfreut. Bevor es sich die Muhme anders überlegen konnte, schlüpfte sie zur Tür hinaus. Draußen auf der Straße erst wurde ihr bewusst, welch wunderbare Möglichkeit sich ihr damit bot: Der Weg in den Kneiphof war weit. Niemand würde sich wundern, wenn sie bis zum Nachmittag brauchte. Im Vorbeilaufen spähte sie in die offene Werkstatt. Theres und Marie saßen einträchtig nebeneinander über ihre Arbeit gebeugt. Zaghaft summten sie ein Lied. Beruhigt lief Agnes weiter.
Die Vorfreude auf ein mögliches Wiedersehen mit Caspar ließ sie den Weg zur Altstadt wie im Traum bewältigen. Nach Erledigung ihres Gangs zum Grünen Baum würde ausreichend Gelegenheit bleiben, auf der Altstädter Holzwiese nach Caspar zu suchen. Agnes’ Herz klopfte schneller. Auf den Straßen herrschte weniger Gedränge als an Markttagen. Zwei Brauknechte schoben einen Karren mit einer großen Kupferpfanne und verschiedenstem Braugerät vorbei. Geduldig ließ Agnes ihnen den Vortritt. Zum ersten Mal nahm sie die vielen Baustellen wahr, die sich auch im beschaulichen Löbenicht ausbreiteten. Die Steine von der Kreuzherrenburg taten auch hier gute Dienste. Umso verwunderlicher, dass auch die roten Backsteinmauern der Burg längst wieder in voller Höhe glänzten.
Neugierig sah Agnes sich um. Die Reihe der Häuser wuchs westwärts näher zur Altstadt, ebenso wurden so manche der ehemals einstöckigen Gebäude um ein oder zwei weitere gemauerte Geschosse vergrößert. »Weg mit Euch!«, riss ein Aufschrei sie herum. Ein Kran schwenkte gefährlich tief über ihrem Kopf einen Sack Sand zu einer Baustelle. Ein Maurer schubste sie beiseite. Sie lief weiter. Mit einem artigen Nicken grüßte sie die Wachen am Tor zur Altstadt. »Geht nur, Fräulein«, winkte der eine ihr zu, ein spindeldürrer Alter mit schlohweißem Bart. Der Zweite auf der Altstädter Seite würdigte sie kaum eines Blickes. Wohlgemut hastete sie weiter, die gesamte Langgasse entlang über den nahezu leeren Markt. Auch dort fiel ihr zum ersten Mal auf, wie viele Häuser um- und angebaut wurden. Die Arbeiten hätten Laurenz mehr als einen Winter lang ernähren können. Sie unterdrückte die aufkommende Wut und zwang sich, an anderes zu denken. Kurz
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