Gold und Stein
einmal störte sie das weitaus weniger als letzte Woche noch.
Ein Spatz hüpfte dicht vor ihr auf das Fensterbrett, äugte in die Stube, suchte nach einem neuen Schlupfwinkel. Das graubraune Gefieder glänzte im Sonnenlicht. Rasch verscheuchte Agnes den Vogel. Kaum war er verschwunden, setzte sich eine Taube zutraulich auf ihre Hand. Das hellgraue Tier legte das Köpfchen schief und gurrte vergnügt. So niedlich es aussah, durfte Agnes sich nicht erweichen zu lassen. Die Muhme missbilligte es, wenn die Vögel mit Brotkrumen angefüttert wurden. Also verjagte sie auch die Taube und sah ihr nach, wie sie sich über die Köpfe der Menschen hinweg in die Lüfte emporschwang. Was gäbe sie dafür, es ihr nachzutun! Ob sie zu Laurenz fliegen würde? Sie zögerte. Im Umfeld der Kreuzherren war ihm ihre Anwesenheit nicht sonderlich willkommen. Vielleicht sollte sie eher in die Altstadt zu … »Halt!«, rief sie sich selbst zur Ordnung.
»Ausgeträumt, Kleines?« Theres sah von ihrer Stickerei auf. Unter ihren geschickten Händen verwandelte sich ein schmuckloses Band aus dunkelblauem Samt in ein reich mit Gold- und Silberfäden übersätes Prachtstück. »Wer dir nur so heftig im Kopf herumspukt? Dabei dachte ich, der gute Lau…«
»Halt den Mund!«, fuhr Marie ihr über den Mund. »Agnes wird Heimweh nach ihrer Mutter haben. Wie schlimm, dass Laurenz auf der Marienburg bleiben muss. So dauert es bis über den Winter, ehe er sie wieder nach Hause begleiten kann.«
»Die Ärmste!« Theres gluckste in sich hinein. »Es muss wahrlich eine Strafe für sie sein, noch länger hierzubleiben. Dann muss sie wieder langweilige Botengänge erledigen. Wer ihr dabei wohl über den Weg läuft?«
»Hör nicht auf sie!« Ehe Agnes sich’s versah, stand die dicke Marie neben ihr und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. Agnes überragte die etwa fünf Jahre ältere Magd zwar um Haupteslänge, lehnte sich aber dennoch schutzsuchend an sie. »Theres ist eifersüchtig, weil sie seit Jahren die falschen Burschen anschmachtet. Den wackeren Brauknecht Nedas könnte sie haben. Der würde sie auf Händen tragen und ihr das Paradies auf Erden bereiten. Hast du gesehen, wie er gestern wieder in die Werkstatt gestarrt hat? Fast wäre ihm vor Verzücken das Bierfass auf den Fuß gedonnert. Kaum hat er es auf den Karren wuchten können, so sehr hat ihn ihr Anblick gefesselt. So ein starker Mann! Hast du seine Muskeln gesehen? Und dieser breite Rücken! Wie herrlich muss es sich anfühlen, von ihm umarmt zu werden.« Marie rollte die Augen, ihre Wangen röteten sich.
»Dann nimm du ihn doch! So ein Brauknecht ist allemal besser als gar kein Mann.« Trotz der kecken Worte kostete es Theres sichtlich Mühe, die Fassung zu wahren. Nicht zum ersten Mal meinte Agnes, dass sie mit ihrem losen Mundwerk eine traurige Geschichte zu verbergen suchte.
»Ich will dir niemanden wegnehmen, Liebes!«, zischte Marie sie an. »Erst recht nicht unseren braven Nedas. Wen kriegst du am Ende sonst ab?«
Wie von Sinnen stürzte Theres zum Tisch, griff sich eine der überreifen Birnen und schleuderte sie auf Marie. Im letzten Augenblick duckte Agnes sich weg. Die weiche Frucht traf die Magd mitten auf den üppigen Busen. Die Schale platzte auf, das weiche Fruchtfleisch und der klebrige Saft verteilten sich auf dem Leinenkleid. Theres begleitete ihren Sieg mit einem schrillen Auflachen.
»Du Miststück!« Angeekelt versuchte Marie, die Schweinerei zu beseitigen. Agnes wollte ihr helfen, sah sich nach einem Leinentuch um. »Gib mir dein Halstuch!«, verlangte Marie und griff schon danach.
»Nicht!« Agnes hob die Hände und hielt es mit aller Kraft fest.
»Hast du etwas zu verbergen? Es hat doch wohl nichts mit einem Burschen zu tun?« Neugierig stellte sich Theres zu ihr, zwinkerte Marie zu. Der Streit der beiden war vergessen. Sie witterten eine bessere Geschichte. Agnes zitterte.
»Komm schon, lass sehen, Kleines! Wir tun dir nicht weh. Von uns erfährt niemand etwas, deine Muhme sowieso nicht.« Marie versuchte auf sanftem Wege, sie zum Offenlegen des Geheimnisses zu bewegen.
»Hab dich nicht so! Von uns weißt du auch längst alles!«, gab sich Theres entschlossener. Ehe Agnes sich’s versah, riss sie an dem Tuch. Schon hörte sie das verräterische Ratschen des Stoffes.
»Nein!«
»Was ist denn hier los?« Die Tür flog auf, und die Muhme stand vor ihnen. Verärgert sah sie von einer zur anderen. Alle drei senkten die Köpfe.
»Seid ihr von
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