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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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musterte ihn aufmerksam. Er hielt ihrem Blick nicht lange stand, sondern senkte den Kopf, um die Gogeln an seinen Schnabelschuhen zu betrachten.
    »Deine Mutter weiß gar nichts von deinem Besuch. Es war deine eigene Idee, nicht wahr?« Sie sah nicht viel mehr als das Barett auf seinem gesenkten Schädel. Eine Fliege krabbelte darüber. Im Sonnenlicht schimmerten ihre durchsichtigen Flügel silbrig. Der Wind ließ sie sacht beben. Das winzige Tier drehte sich hin und her, als genieße es den Lufthauch. Agnes gefiel die Vorstellung, dass Caspar nicht ahnte, was sich auf seinem Kopf abspielte, während er den Boden zu seinen Füßen begutachtete.
    »Was wäre so schlimm daran?« Endlich hob er den Blick und lächelte sie an. Ihr wurde leicht ums Herz.
    »Gar nichts wäre schlimm daran. Im Gegenteil. Mich würde es freuen.«
    »Warum?«
    »Es zeigt mir, was dir an mir liegt.«
    Agnes’ Herz pochte heftig. Sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Mit aller Kraft drängte sie es zu ihm hin, zugleich aber wehrte sich etwas in ihr dagegen. Wieder glitt ihr Blick über sein Gesicht. Der Buckel an der schmalen Nase gefiel ihr immer besser. Am liebsten allerdings betrachtete sie seine bernsteinfarbenen Augen, die wie ein von goldenem Sonnenlicht überfluteter Teich zum Eintauchen einluden. Allzu gern versank sie darin und spürte die innige Verbundenheit mit ihm. Ungestüm fiel sie ihm um den Hals, schmiegte sich gegen seine Brust. Er schnaufte und schlang nach kurzem Zögern ebenfalls die Arme um ihren Leib.
    »Es ist anders als mit Laurenz«, schoss ihr durch den Kopf. Das Kribbeln im Bauch fehlte, ebenso die Gier nach mehr. Dennoch genoss sie die Nähe. Ihre Finger strichen ihm über den Rücken, wanderten zu den Schultern hinauf, glitten am Hals entlang. Unwillkürlich fuhren sie unter das Tuch, erreichten den Nacken und ertasteten das Feuermal an derselben Stelle wie ihres. Die Haut fühlte sich rauh an. Auch das kannte sie von ihrem eigenen Mal.
    Unter der Berührung zuckte er kurz zusammen, ließ sie jedoch gewähren. Ihre Fingerkuppen zeichneten den Rand des Males nach. Auch darin lag etwas zutiefst Vertrautes. Sie musste es sich nicht einmal ansehen. Längst wusste sie, wie es aussah: Es hatte genau dieselbe Form und Farbe wie ihres! Ein weiterer Beweis, dass sie füreinander bestimmt waren.
    »Mein lieber Caspar!«, murmelte sie, hob den Kopf, strahlte ihn an. Sofort saugte sich ihr Blick an seiner Nase fest. Sie stutzte. Das war kein Zufall! Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. Wie hatte sie nur so töricht sein können und es nicht erkennen wollen? Eindeutig hatte er Lores Nase! Dazu kam, dass er dasselbe Feuermal wie sie im Nacken hatte. Die Worte der Hebamme Gerda Selege kamen ihr in den Sinn. Die Muhme hatte ihr davon berichtet: »Am Feuermal werden sie sich einst erkennen!«
    Wie wahr! Sie hatten dasselbe Alter, nahezu dieselbe Körpergröße sowie viele weitere Ähnlichkeiten in ihrem Verhalten und ihren Vorlieben. Die Kehle schnürte sich ihr zu. Hieß es nicht, man fühle so etwas auf den ersten Blick? Wo war ihr Gespür gewesen? Von Beginn an war da diese Vertrautheit, fast schon ein Gefühl der Geborgenheit zwischen Caspar und ihr. Die Scheu, einander zu berühren, gar zu küssen passte ebenfalls dazu. Nein, es gab keinen Zweifel: Caspar war ihr verschollener Zwillingsbruder! Kaum dachte sie das, stand ihr die Gestalt aus ihrem Fiebertraum vor Augen. Sie sah aus wie er. Längst hätte sie es sehen müssen!
    Auf einmal wusste sie nur noch eins: Sie musste fort! Jäh stieß sie Caspar von sich, drehte sich um, raffte den Stoff ihres Surkots und rannte davon, mitten in das Getümmel auf der Löbenichter Langgasse.
    Sie sah und hörte kaum, was um sie herum geschah. »Was fällt dir ein!« Eine Bauersfrau schrie auf, als sie gegen ihre Körbe stieß und sie umwarf. Äpfel kullerten heraus. Agnes hob den Rock, sprang über einen, um beim Landen auf der Erde den nächsten unter ihrer Fußsohle zu zermalmen. »Verzeiht!«, rief sie und hob die Hand, hielt jedoch nicht an, um den Schaden wiedergutzumachen. Keuchend rannte sie weiter, zwängte sich zwischen zwei Männern hindurch, die sich wild gestikulierend unterhielten, sprang über eine Kiste und hastete um mehrere Ecken.
    Außer Atem hielt sie erst an, als sie das Pregelufer erreicht hatte. Ihr Rachen schmerzte, so heftig rang sie nach Luft. Ihre Hände umklammerten den Hals, spürten den weichen Stoff des Tuches und richteten es gerade aus.

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