Gold und Stein
Agnes. Der Gedanke an die entsetzliche Trennung zerriss ihr das Herz. Rasch schlug sie die Augen wieder auf.
Nebel verschleierte ihr den Blick. Sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass es Tränen waren. Verschämt wischte sie sich mit dem Handrücken über die feuchten Wangen, senkte das Antlitz. Warum hatte sie Agnes nicht die Wahrheit sagen können? Sie hatte ihr eine goldene Brücke gebaut, um die erforderlichen Worte auszusprechen. Danach hätte sie mit ihr gemeinsam dieser verfluchten Stadt für immer den Rücken kehren können. Vorsichtig blickte sie auf und erstarrte abermals: Agnes und Caspar waren verschwunden!
Sie trat zwei Schritte von der Hauswand weg, sah sich um. Von beiden keine Spur. Sie schaute die Krumme Grube hinauf – nichts. Sie sah zum Löbenichter Mälzerbrunnen hinunter – auch dort nichts. Hatte sie sich das eben nur eingebildet? Verzweiflung erfasste sie. Breitete der Wahnsinn bereits seine Schwingen über sie aus? Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, zwang sich zur Ruhe. Sie hatte nicht geträumt. Zögernd trat sie weiter in die Gasse hinein, schaute den vorübereilenden Menschen ins Gesicht. Niemand erkannte sie. Sie beschleunigte die Schritte, ging die Gasse ganz hinunter und stand bald mitten auf dem Löbenichter Markt im Schatten des mächtigen Brunnens. Sie wollte sich nach links wenden, stieß mit jemandem zusammen. »Verzeihung«, murmelte es. Sie meinte, ihren Ohren nicht zu trauen. Gernots Stimme, jung und ungestüm wie früher! Noch ehe sie sich besinnen und Caspar am Arm festhalten konnte, eilte der gesenkten Hauptes weiter, tauchte alsbald im geschäftigen Gedränge der Langgasse unter.
Sie machte zwei, drei Schritte in dieselbe Richtung, dann blieb sie stehen. Überflüssig, ihm nachzulaufen. Sie wusste, wo sie ihn fand. Seit einigen Tagen schon führte ihr Weg regelmäßig am Haus der Fischarts vorbei. In den vergangenen siebzehn Jahren war es prächtiger geworden. Wie andere Zunftgenossen in der Altstadt hatte auch Gernot sein Vermögen vermehrt und Nutzen vom Schleifen der Deutschordensburgen gezogen, um seinen Besitz ausbauen zu lassen. Langsam ging sie dorthin. Caspar sollte einigen Vorsprung haben, bevor sie bei ihm auftauchte. Gernot weilte in Riga, wie sie dank Rehbinder wusste, und Caspar kümmerte sich währenddessen um die Geschäfte. Das machte es einfacher, direkt mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen. Der Eibenholzhandel bot dafür einen unverdächtigen Anknüpfungspunkt. Beim Reden über die nächste Lieferung konnte sie beiläufig ausloten, wie er zu seinem Vater und Editha stand.
Beseelt von der Vorstellung, gleich dem jungen Gernot in Gestalt seines Sohnes gegenüberzustehen, warf sie den Kopf in den Nacken. Mit den langen, schlanken Fingern steckte sie eine Strähne ihres kupferbraunen Haares aus dem Gesicht unter die helle Flügelhaube. Gleich spürte sie bewundernde Blicke auf sich ruhen. Eine Frau wie sie erregte Aufsehen, trotz ihrer fünfunddreißig Jahre. Sie war sehr groß gewachsen und begegnete den Männern auf Augenhöhe. Kaum zeigten sich Falten auf ihrem Gesicht. Sie achtete auf ihr Äußeres, wie Lore es sie vor langer Zeit gelehrt hatte. An einem Tag wie diesem, da die meisten Frauen im Löbenicht mit dem einzulagernden Obst und der Größe der Krautfässer beschäftigt waren, musste das auffallen. Zufrieden strich sie den grünen Surkot glatt und vergalt die anerkennenden Blicke mit einem hoheitsvollen Nicken. Ehrfürchtig ließen ihr Bauersfrauen, Marktleute und Handwerksknechte am Altstädter Tor den Vortritt, auch die Wachhabenden winkten sie mit einer respektvollen Verbeugung durch. Je näher sie allerdings dem langgezogenen Markt und damit Gernots Haus kam, desto aufgewühlter wurde sie.
»Liebe Fröbelin, wie gut, Euch zu treffen!« Von links trat der dickleibige Rehbinder unvermittelt aus einer Gasse und hieß sie ebenfalls stehen bleiben. Sein rotwangiges Gesicht glänzte. Gleich wischte er mit dem Handrücken darüber und blinzelte Gunda aus kleinen Augen an. »Seit unserem Morgenimbiss in meinem Haus haben sich einige Dinge ergeben, die ich Euch unbedingt mitteilen muss.«
»Hat das nicht Zeit bis später? Verzeiht, mein Lieber, aber ich habe es sehr eilig. Gewiss sehen wir uns heute Abend beim Nachtmahl. Eure Frau Gemahlin und Eure Köchin zaubern jeden Tag Wunderbares auf den Tisch.«
»Habt besten Dank für Euer Lob. Meine Frau wird es gern hören. Doch schenkt mir bitte trotzdem kurz Gehör. Ich weiß zwar
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