Gold und Stein
tiefen Aufstöhnen auf den nächststehenden Stuhl. Erschreckt eilte Caspar zu ihr. Sie presste die Hände auf ihren Unterleib und krümmte sich. Auch die Hundskötterin war gleich bei der Stelle, hielt ihr eine kleine Phiole dicht unter die Nase und redete beruhigend auf sie ein.
»Ich werde hier wohl nicht länger gebraucht«, stellte Agnes fest. »Leb wohl, mein Lieber. Du hörst von mir.«
»Du willst jetzt tatsächlich gehen?« Erstaunt hob Caspar noch einmal den Kopf. »Aber doch nicht ausgerechnet jetzt, da unsere Mutter dich braucht.«
»Gerade deshalb gehe ich, mein Lieber. Unsere Mutter braucht mich jetzt ebenso wie ich sie. Allerdings rede ich wohl von einer ganz anderen Mutter als du. Diese Verwirrung ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, dazu mache ich mich auf.«
25
Z um zweiten Mal innerhalb weniger Wochen stand Agnes im Dämmerlicht einer Schlafstube und raffte heimlich ihre wenigen Habseligkeiten zusammen: den Gürtel mit dem daran hängenden Gebetbuch und dem kleinen Geldbeutel aus Leder, beides Geschenke des verstorbenen Fröbel, den Rosenkranz von Gunda sowie den hölzernen Besteckkasten mit Klapplöffel und Messer. Von dem Geld hatte sie bislang keines gebraucht. Auf dem Weg von Wehlau über Labiau bis in den Löbenicht hatte Laurenz bei jeder Einkehr bezahlt. Von der Muhme hatte sie in den letzten Wochen gar einzelne Münzen zugesteckt bekommen. »Als Lohn für deine Hilfe«, hatte Agatha das gerechtfertigt. In ihrer jetzigen Lage erwies sich das als hilfreich. Mit dem Geld würde sie bei sparsamem Wirtschaften gut über den Winter kommen. Erleichtert knotete sie den Beutel fester zu.
Als sie schließlich Großmutter Lores zierliche Dose mit den Nadeln in Händen hielt, verschleierten ihr Tränen den Blick. Gerührt betastete sie die Dose, schüttelte sie sacht und lauschte dem hellen Klirren der Nadeln darin. Wie oft mochte die Großmutter das in ihrem Leben gehört haben? Ob Lore sie in ihren letzten Tagen auf Erden vermisst hatte? Bestimmt hatte sie geahnt, wer ihr die Dose stibitzt hatte. Deutlich stand ihr das Lächeln vor Augen, mit dem Lore solch kleine Gaunereien anzusprechen pflegte. Vorbei! Lore war tot. Nie wieder würde sie ihre Enkelin anlächeln. Sie wischte sich die Augenwinkel trocken. Eine eigenartige Ruhe überkam sie. Das letzte Gespräch mit der Großmutter fiel ihr ein, ihre Mahnung, die Liebe zu Laurenz in Ehren zu halten. Beschämt dachte sie daran, dass sie das für einige Zeit versäumt hatte. Ebenso, wie ihr der Glaube an Gundas Mutterliebe für eine Weile abhandengekommen war. Dabei hatte Lore sie inständig gemahnt, stets fest darauf zu vertrauen. Nie hätte sie das getan, wenn ihr Leben mit Gunda auf einem furchtbaren Betrug beruhen würde. Bei diesen Überlegungen lachte Agnes plötzlich auf. Die Behauptungen der Hundskötterin hatten das Gegenteil von dem bewirkt, was die Hebamme beabsichtigt hatte: Agnes glaubte mehr denn je an die besondere Bindung zu Gunda. Allein die Sanftmut, mit der sie Agnes ihre Liebe zeigte, stand dafür. Eine wahre Mutter riss nicht an ihrem Kind. Behutsam leitete sie es auf den richtigen Weg. Wie rücksichtslos versuchte dagegen die Fischartin, sie für sich zu gewinnen! Täglich schickte sie Agnes immer drängendere Nachrichten, endlich zu ihrer »wahren« Mutter heimzukehren.
Agnes schauderte bei der Vorstellung, das Haus der Muhme im Löbenicht verlassen und bei den Fischarts wohnen zu müssen. Bislang war es ihr noch gelungen, die Verwicklungen vor Agatha und den Mägden geheim zu halten. Zwar würde die Muhme sie in ihrem Glauben an Gundas Redlichkeit bestärken, auch Marie und Theres würden das Gebaren der Fischartin eher ins Lächerliche ziehen, als es für bare Münze zu nehmen. Dennoch wollte sie erst dann mit ihnen darüber reden, wenn sie Laurenz’ Beistand gewiss war. Bei dem Gedanken an ihn schnürte es ihr die Kehle zu. Der kluge Blick seiner verschiedenfarbigen Augen genügte, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Kein Zweifel: Er würde die richtigen Worte finden, die ungeheuerlichen Behauptungen der Fischartin ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Warum hatte Gunda sich nur so heftig gegen ihn gewehrt? Er war der Einzige, der sie retten konnte. Dringend musste sie zu ihm!
Von neuem wischte sie sich über die feuchten Augenwinkel und befestigte Lores Nadeldose mit zittrigen Fingern am Gürtel. Rasch rollte sie den zweiten Surkot, das Leinenkleid, ein Hemd zum Wechseln sowie ein weiteres Halstuch in der
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