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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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deinen Fingern in den Nacken, betaste die rauhe Haut, fahr am Rand der Stelle entlang, und dann betrachte meinen Nacken. Was denkst du, wirst du sehen? Wir beide haben dort dasselbe Feuermal!«
    Schwungvoll zerrte sie das Tuch ganz herunter, drehte sich halb zu ihm um und zeigte mit den Fingern auf ihr Mal. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er zögernd an den eigenen Nacken fasste und ihn ungläubig betastete, während er ihren Nacken misstrauisch beäugte. Er schluckte.
    »Das beweist, was ich dir eben versucht habe nahezubringen: Wir sind Geschwister!«
    »Das beweist noch gar nichts«, wehrte er ab. »Wie soll das gehen? Wir haben doch gar nicht dieselben Eltern. Deine Mutter ist die Fröbelin, und meine Mutter siehst du dort am Tisch. Bevor du auf törichte Gedanken kommst, lass dir gesagt sein: Sie und ich hegen die innigsten Gefühle füreinander, wie es zwischen Mutter und Sohn natürlich ist. Mein Vater trägt übrigens ebendieses Mal an genau derselben Stelle im Nacken wie ich. Allerdings verbirgt er es nicht unter einem Tuch, sondern überdeckt es mit seinen glatten Haaren. Da du ihn nicht kennst, lass dir zudem versichert sein, dass wir beide uns auch sonst sehr ähneln und dass er dieselben bernsteinfarbenen Augen hat wie ich. Über unsere Verwandtschaft kann nicht der geringste Zweifel bestehen.«
    »Das ist nicht wahr!«, wisperte Agnes ihrerseits fassungslos.
    »Es stimmt: Caspar hat sehr große Ähnlichkeit mit seinem Vater«, mischte sich Gunda ein. »Verzeih, Liebes, gern hätte ich dir das bei besserer Gelegenheit in aller Ruhe erklärt, aber nun geht es wohl nicht anders. Du erinnerst dich, was Laurenz Selege dir im Frühjahr erzählt hat. Es tut mir leid, damals alles abgestritten zu haben. Ich hatte einfach große Angst. Jetzt aber muss ich dir gestehen: Er hatte recht. Ich bin diese Gunda, von der er gesprochen hat, die damals hier im Löbenicht unter Mithilfe seiner Mutter als Hebamme Zwillinge geboren hat. Der Vater meiner beiden Kinder ist allerdings nicht mein damaliger Gemahl Rudolf Kelletat, wie du vielleicht von der Streicherin gehört hast, sondern Gernot Fischart.«
    Von tiefen Gefühlen übermannt, hielt sie inne, senkte den Blick und schluckte mehrmals, bis sie leise weitersprach: »Einst haben wir uns sehr geliebt. Wir waren einander längst versprochen, meine Eltern und ich haben seinetwegen unsere Heimat verlassen, um …«
    »Shut up, you blasted old shrew«,
entfuhr es der Fischartin böse, während die Hundskötterin ein lautes Auflachen vernehmen ließ und sich wichtigtuerisch nach vorn schob. Dabei wedelte sie wie zufällig mit ihrem Lederbeutel dicht vor Gundas Gesicht herum. Jäh erblasste diese und wich angeekelt zurück, was die stämmige Hebamme mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Entschlossen ergriff sie das Wort: »Verschont uns jetzt bitte mit dieser alten Geschichte, liebe Gunda! Ihr wisst doch genau, wie hohl sie klingt, selbst wenn Ihr sie wieder und wieder erzählt. Was heißt das schon: Der ehrwürdige Gernot Fischart und Ihr wart einander versprochen? Niemand bestreitet das! Ebenso wenig, dass Ihr Euch auch einmal sehr geliebt habt. Doch das ist rasch vorbei gewesen. Gefühle ändern sich, wie wir alle wissen, gerade in so jungen Jahren. Die Verlobung wurde gelöst, weil Ihr verschollen wart. Niemand wusste, ob Ihr überhaupt noch lebt. Der gute Fischart ehelichte aus freien Stücken die ehrwürdige Editha, für die er damals schon tief empfand. Bis heute ist sie ihm eine treusorgende, liebende Gemahlin, wie auch er ihr ein äußerst ergebener Gatte ist. Die Frucht dieser unendlich großen Liebe gedeiht nach wie vor. Davon haben wir alle eben erst ausführlich gehört.« Sie lächelte verschmitzt. »Was aber viel wichtiger ist, meine Lieben«, wandte sie sich an Agnes und Caspar und legte beiden fürsorglich die Arme auf die Schultern. »Die beiden sind Eure Eltern.«
    »Nein!«, riefen Agnes und Gunda gleichzeitig, während Caspar und die Fischartin verwundert die Augen aufrissen.
    »Ihr wollt doch nicht an der Wahrheit zweifeln?« Die Hundskötterin würdigte Gunda keines Blickes. Eindringlich sah sie allein auf Agnes und redete mit einem zufriedenen Schmunzeln weiter: »Im Gegensatz zu Euch, meine liebe Agnes, kann ich mich ebenso wie die beiden anderen Damen hier sehr genau an jenen Tag erinnern, an dem Ihr gemeinsam mit Eurem Bruder das Licht der Welt erblickt habt. Als wäre es gestern, sehe ich es vor mir, wie die schweren Stunden an den Kräften

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