Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
Vom Netzwerk:
Decke zusammen. Zuletzt griff sie nach der Borte, die die Muhme einst Gunda geschenkt hatte. Zart strichen ihre Fingerkuppen über den Samt und die zierliche Stickerei. Das Stück war von großer Kunstfertigkeit. Ein solch kostbares Geschenk musste Zuversicht in einer ausweglosen Lage spenden. Agnes presste es ans Herz, malte sich die Begegnung zwischen Gunda und der Muhme vor mehr als siebzehn Jahren aus. Schade, dass Agatha nichts weiter darüber zu erzählen wusste. Sie betrachtete noch einmal die Borte, zögerte, ob sie sie der Muhme hinterlassen sollte. Am Ende würde sie das falsch verstehen. Außerdem konnte sie selbst Zuversicht gebrauchen, damit ihr Vorhaben gelang. Sie küsste die Borte, legte sie sorgfältig zu den übrigen Kleidungsstücken und verschnürte alles zu einem ordentlichen Päckchen. Auf leisen Sohlen schlich sie zur Tür, legte das Ohr auf den Türflügel und lauschte.
    Aus der Diele klangen weiterhin die laute Stimme des Bierbeschauers Mohr und die leisere der Muhme herauf. Gelegentlich mischte sich der Gesang der Mägde darunter. Wie üblich saßen sie in der Werkstatt und beugten die Köpfe über die Borten, die von reumütigen Ehemännern und putzsüchtigen Frauen bestellt worden waren. Agnes klopfte das Herz bis zum Hals. Sollte sie es wagen, mit dem Bündel in der Hand nach unten zu gehen? Wenn sie Glück hatte, war die Muhme so in das Gespräch mit Mohr vertieft, dass sie es nicht merkte. Ihr blieb keine andere Wahl. Noch vor dem Mittagsläuten musste sie beim Löbenichter Tor der Altstadt sein. Erst am gestrigen Sonntag war es ihr gelungen, jemanden aufzutreiben, der sie wenigstens einen Teil der Strecke bis zur Marienburg mitnehmen würde. Wenn sie daran dachte, wie verzweifelt sie in der Kneiphöfer Wirtsstube zum Grünen Baum herumgefragt und dabei stets befürchtet hatte, Rehbinder zu begegnen, wurde ihr flau. Nur weil sie dem Wirt eine weitere geheimnisvolle Geschichte über den Großen Moosbruch erzählt hatte, war er bereit gewesen, ihr zu helfen. Zum Glück! Ein paar Tage länger hätte sie ihren Plan kaum mehr vor der Muhme und den Mägden verbergen können. Vorsichtig öffnete sie die Tür, strikt darauf bedacht, jedes Geräusch zu vermeiden. Das aber war völlig unnütz. Hoch erhobenen Hauptes sollte sie durch die Diele gehen und lediglich das Bündel vor der Muhme verbergen. Wie sie ihr Fortgehen mitten am Vormittag begründen sollte, hatte sie sich sorgfältig überlegt. Auf weichen Knien erreichte sie die unterste Treppenstufe.
    »Liebe Streicherin, Ihr überrascht mich immer wieder aufs Neue!«, verkündete Bierbeschauer Mohr gerade gut gelaunt und spießte mit der Spitze seines Messers ein dickes Stück Käse auf. Kauend sprach er weiter: »Ich mag es kaum fassen, dass Ihr dieses Mal das Bier wirklich ohne die Hilfe Eurer Nichte gebraut habt. Trotz ihrer jungen Jahre ist sie Euch eine ausgezeichnete Lehrmeisterin. In wenigen Wochen ist ihr gelungen, was ich in vielen Jahren nicht zuwege gebracht habe: Euch zu einer anständigen Bierbrauerin zu machen.«
    Polternd lachte er auf, griff sich eine Scheibe Brot, stopfte sie in den Mund und hob währenddessen mit der zweiten Hand den Becher, um Agatha zuzutrinken. Die nickte zustimmend und verharrte mit der Kanne vor der Brust an der Stirnseite des Tisches.
    »Oh, da kommt das hochverehrte Fräulein Agnes höchstpersönlich!« Die wachen Augen des Bierbeschauers hatten Agnes am unteren Treppenabsatz bereits entdeckt, noch ehe Agatha ihrer gewahr geworden war. »Freut mich, freut mich. Tretet näher, seid nicht so schüchtern. Euch müssen die Ohren klingen, so laut singe ich mein Loblied auf Euch, meine Liebe.«
    Trotz des struppigen, dunklen Bartes, der nahezu das gesamte Gesicht bedeckte, war das wohlwollende Schmunzeln gut zu erkennen. Seine Wangen glühten, ebenso war die Nasenknolle rot gefärbt, die Augen schimmerten glasig. Gewiss war das Bier der Muhme nicht das erste, das er an diesem Morgen verkostet hatte.
    Agnes bemühte sich, das Bündel hinter dem Rücken zu verbergen und sich zugleich möglichst unbefangen dem Tisch zu nähern. Zur Bewirtung des Bierbeschauers hatte Agatha neben einer großen Schale mit Birnen, Äpfeln und den ersten Nüssen noch einen Laib Brot, ein großes Stück würzigen Käse und einen saftigen Schinken bereitgestellt. Sogar eine Schale mit frischem Mus fand sich auf der Tafel. Eigentlich pflegte sie das für besondere Anlässe aufzuheben. Offenbar empfand sie Mohrs Besuch als solchen.

Weitere Kostenlose Bücher