Gold und Stein
den blauen Längsstreifen betonten die dünnen Beine fast eine Spur zu viel. Wie so oft fragte sich Editha, wie sie das Gewicht des Körpers überhaupt zu tragen vermochten. Früher einmal war Gernot gertenschlank gewesen. Erst im Lauf der Jahre hatte sich sein Bauch zu wölben begonnen. Sie sah an ihrer eigenen, rundlichen Gestalt hinunter. Eheleute passten sich einander auch äußerlich an, ein weiterer Beweis ihrer unerschütterlichen Liebe. Zärtlichkeit erfasste sie. Die Schatten der Vergangenheit, die sie noch viel zu oft in Alpträumen heimsuchten und ihr die Gestalt einer hochgewachsenen, schlanken, braunhaarigen Frau quälend nah vor Augen führten, verblassten mit jedem weiteren Jahr und jedem weiteren Speckgürtel um Gernots Hüften. Sie durfte nur das Vertrauen in ihren Sieg nicht verlieren. Errungen hatte sie ihn schon vor langer Zeit.
»Du wirfst mir also vor, unseren Sohn zu verzärteln?«, knüpfte sie an das unterbrochene Gespräch an und machte zwei Schritte auf Gernot zu. Obwohl er nicht sonderlich groß war, musste sie das Kinn recken, um ihm ins Gesicht zu schauen. Beiläufig strich sie mit den Fingern am weiten Ausschnitt ihres hellblauen Kleides entlang, richtete die Rüschen und entblößte dabei viel helle, trotz ihrer achtunddreißig Jahre noch recht makellose Pfirsichhaut. Sie warf den Kopf zurück und schürzte die rot gefärbten Lippen. Aufmerksam suchten ihre blauen Augen seinen Blick, doch er wich ihr aus.
»Wie soll ich unseren Sohn deiner Meinung nach behandeln, damit er nicht verweichlicht? Soll ich ihn losschicken, um sich den böhmischen Söldnern anzuschließen, die der Preußische Bund angeheuert hat? Äußerst rauhe Burschen sollen das sein, angeführt von Männern, die sich ihre Lorbeeren in den Hussitenkriegen verdient haben. Seine erste Probe könnte Caspar gleich im Kampf gegen Plauens Truppen drüben im Kneiphof bestehen. Plauen setzt übrigens auch zum Großteil auf Männer aus Böhmen, wie man hört. Egal also, auf welcher Seite er sich einreiht: Überall wird er von den tapferen Burschen lernen, seinen Mann zu stehen. Das willst du doch, oder?«
Sie hielt inne und schöpfte nach Luft. Wieder stellte sie sich vor den Käfig, besah sich den Vogel, um zur Ruhe zu kommen. Als richtete sich ihre Empörung gegen ihn, war der kleine Bursche verängstigt ins äußerste Eck seines Bauers zurückgewichen.
»Darf ich dich daran erinnern, mein Lieber«, fuhr sie an Gernot gewandt fort, »dass Caspar unser einziges Kind ist? Verlieren wir ihn, haben wir niemanden mehr. Oder denkst du, es geschähe noch einmal ein Wunder und die Gnade Gottes bescherte uns einen weiteren Nachkommen? Sieh der Wahrheit ins Gesicht: Sowohl für dich wie auch für mich sind die besten Jahre vorbei. Bei Caspar ist das anders. Siebzehn Jahre ist er gerade erst alt. Das ist weit entfernt von dem Alter, in dem man ihn auf eine Abenteuerreise schicken sollte, insbesondere in Zeiten wie diesen.«
»Du drehst mir mal wieder jedes Wort im Mund herum!« Empört begann Gernot in der weitläufigen Wohnstube auf und ab zu gehen. »Von einer Abenteuerreise war niemals die Rede. Ebenso wenig wollte ich ihn als Söldner anpreisen. Dennoch: Gerade angesichts der unsicheren Lage im Ordensland ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, den Jungen auf Reisen zu schicken.«
Editha folgte ihm mit den Augen. Seine dünnen Beine holten beim Gehen weit aus, die Mantelschöße umflatterten die breiten Hüften. Trotz aller Aufregung saß das nackenlange, dunkelblonde Haar wie ein Helm um Gernots Haupt, bedeckte die verräterische Zeichnung im Nacken vollständig.
»Selbst wenn er dadurch von den kriegerischen Ereignissen bei uns verschont wird, ist und bleibt es eine Abenteuerreise«, beharrte sie trotzig. »Oder wie nennst du es sonst, wenn ein Siebzehnjähriger allein in die Fremde geschickt wird? Danzig, Lübeck und Bremen sind weit entfernte Ziele. Allein schon an diese Orte zu gelangen ist ein gefährliches Abenteuer, von dem Leben in der Fremde ganz zu schweigen. Mehrere Jahre wird er fort sein. Niemanden wird er unterwegs kennen, niemand wird ihm eine Heimat bieten können. Wie soll er das aushalten?«
»Frag lieber, wie du das aushalten sollst!«
Jäh blieb Gernot stehen und drehte sich zu ihr um. Sein Aussehen erschreckte Editha. Die bernsteinfarbenen Augen weit aufgerissen, war sein Antlitz aschfahl geworden. Der rot gefärbte Bart zitterte, die schmalen Lippen waren blutleer.
»Ich war nicht viel älter als er,
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