Gold und Stein
unterbreitet hatte, »du solltest deinen derzeitigen Schwung nutzen, um deine jugendliche Neugier zu befriedigen. Brennst du nicht schon lange darauf, mehr über die Gepflogenheiten in fremden Städten zu erfahren? Mit eigenen Augen zu sehen, wie die Handelshäuser in anderen Ländern beschaffen sind, wie sie die Geschäfte mit uns abwickeln? Doch sei gewiss, mein Lieber«, abermals landete seine riesige Hand auf der schmalen Schulter des Siebzehnjährigen, »natürlich wirst du nicht gleich Hals über Kopf ins Ungewisse geschickt. Was hältst du von London? Dann kannst du endlich die Familie deiner Mutter in die Arme schließen. Bislang kennst du sie nur durch Briefe und aus Edithas Erzählungen. Mich hat meine Lehrreise seinerzeit ebenfalls zuerst an die Themse geführt. Ich spreche also aus eigener Erfahrung, wenn ich dir versichere, dass man dich dort herzlich willkommen heißen wird.«
Editha meinte, einen Schatten über sein Gesicht huschen zu sehen. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Selbst der Vogel verharrte starr auf der obersten Stange seines Käfigs.
»Sosehr ich mich danach sehne, die Familie meiner Mutter kennenzulernen«, setzte Caspar nach einer Weile vorsichtig an, »gestatte mir dennoch eine Frage, Vater: Warum ausgerechnet jetzt? Und wieso London? Mit Verlaub, liebe Mutter«, er verbeugte sich tief vor ihr, wandte sich dann wieder Gernot zu, »aber du sagst doch selbst, die Engländer tun seit vielen Jahren nichts, was das Handeln mit ihnen für uns zur Freude macht. Hat nicht letztens erst Ludwig Perlbach darüber geklagt, noch immer auf die Bezahlung der im letzten Jahr gelieferten Pottasche zu warten? Claus Rose hat man gar gezwungen, auf dem Rückweg ohne Entgelt Wolle nach Calais zu liefern, von den überhöhten Zöllen, die man Hermann Grobe im Hafen von Bristol für seine Pelze abverlangt hat, ganz zu schweigen. Das klingt alles nicht danach, als würden sich die verworrenen Beziehungen zwischen Londoner und Königsberger Kaufleuten durch den Besuch eines unbedarften Jungen wie mir rasch und einfach ändern lassen.«
»Nun, da hast du sehr gut aufgepasst«, entgegnete Gernot. Unbehaglich fuhr er sich mit den Fingern am Hals entlang und warf einen vorwurfsvollen Blick auf Editha. »Wie ich dir schon gesagt habe: Die Berichte unserer Zunftgenossen über die Handelsbeziehungen mit England sind in der Tat wenig erfreulich. Dennoch scheint mir London als erstes Ziel deiner Reise schon allein aus familiären Gründen angemessen. Ich betrachte es als großes Versäumnis, dass du die Familie deiner Mutter und die Stätten ihrer Kindheit immer noch nicht aus eigener Anschauung kennst. Das ist eine Schande!«
Ob des lauten Ausrufs zuckte Editha zusammen. Gernot konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen, was Caspar wiederum zu einem erstaunten Hochziehen der rechten Augenbraue veranlasste.
»Es sollte uns nichts über die Familie gehen«, fügte Gernot hinzu und schob den stattlichen Bauch weit heraus, verschränkte die Hände wieder auf dem Rücken. »Davon abgesehen, kannst du als Spross aus einem Königsberger und einem Londoner Kaufhaus mit deinem Besuch an der Themse weitaus mehr ausrichten als so manch anderer. Du sprichst beide Sprachen. Der familiäre Rückhalt hilft dir überdies, Brücken zu schlagen, um die tiefen Gräben zwischen London und Königsberg zu überwinden. Denk nur daran, wie viel litauisches Eibenholz früher auf der Holzwiese gelagert wurde. Die Engländer bezogen es über uns, um daraus die Bogen für ihre gefürchteten Bogenschützen zu fertigen. Jetzt könnte die Zeit gekommen sein, das Geschäft wieder anzukurbeln. Ein Gewährsmann hat mir ein sehr gutes Angebot unterbreitet. Er weilt häufig in Wehlau und kann von dort aus direkt mit den Litauern verhandeln. Wir brauchen nur dafür zu sorgen, in England die Abnahme zu steigern, und schon machen wir ein ausgezeichnetes Geschäft!«
Begeistert rieb er sich die Hände. Der Vogel stimmte abermals seinen kurzen, fröhlichen Gesang an.
»Ich wüsste sogar einen guten Grund, warum die Engländer wieder auf das litauische Eibenholz für ihre Bogenschützen setzen sollten«, ergänzte Caspar mit bitterem Unterton. »Die schmähliche Niederlage in Frankreich vor fünf Jahren zeigt es überdeutlich: Sie haben etwas nachzuholen.«
»Na also!« Gernot klang erleichtert.
»Trotzdem zögere ich, dir zuzustimmen, Vater. Erst gestern hast du betont, dass derzeit kein guter Zeitpunkt ist, um an die Verbesserung
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