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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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als ich meine Lehrjahre in der Fremde angetreten habe. Meine Mutter wäre nie auf die Idee gekommen, meinem Vater …«
    »Ich bin nicht deine Mutter! Davon abgesehen, warst du bereits um einiges älter. Anfang zwanzig wirst du gewiss gewesen sein, als du bei meinem Vater in London aufgetaucht bist.«
    »Großer Gott, London!«, rief er mit einem Mal begeistert. Darüber gewannen seine Wangen wieder an Farbe. »Warum bin ich da nicht selbst draufgekommen? Das ist doch genau das richtige Ziel für Caspar. In deinem geliebten Heimatland hat dein Sohn weder Einsamkeit noch gefährliche Abenteuer zu befürchten. Dorthin werden wir ihn fürs Erste schicken.«
    »
Good gracious!
Hast du etwa vergessen, dass London noch weiter von Königsberg entfernt ist als die anderen Städte? Ganz zu schweigen von der gefährlichen Reise. Denk nur an deine armen Eltern! Kurz nach unserer Hochzeit sind sie auf dem Weg zu meinen Eltern bei einem Sturm elend im Kanal ertrunken.«
    Als erhielte sie gerade noch einmal die schreckliche Nachricht, schlug sie sich die Hand vor den Mund. Hastig setzte sie nach: »Von der Unberechenbarkeit des Wetters einmal abgesehen, werden Handelsschiffe auf dem Weg an die Themse ausgeraubt oder verschleppt, im schlimmsten Fall gleich samt Besatzung von Piraten versenkt.«
    »Ja, der Tod meiner Eltern damals war furchtbar«, griff Gernot ihre früheren Worte auf. »Aber trotzdem, Editha, Liebste, müssen wir weiterdenken: Stell dir nur vor, welch große Freude es wäre, wenn
unser
lieber Caspar bei
deiner
lieben Familie in London einträfe! Dieser Gedanke muss dich doch entzücken.«
    Es gefiel ihr nicht, wie er die Worte
unser
und
deiner
betonte. Argwöhnisch betrachtete sie ihn. Der Blick seiner Augen wirkte entrückt, als er fortfuhr: »Ich finde es sehr verlockend, Caspar nach London zu schicken. Was soll er unterwegs schon zu befürchten haben? Immerhin ist
unser
Sohn dank
deiner
Abkunft ein halber Engländer.«
    Bei den letzten Worten lachte er auf, tat dann aber so, als hätte er gehustet. »Um die Fahrt sicherer zu machen, könnten wir ihn in die Obhut eines englischen Kaufmanns geben, der von hier aus in sein Heimatland reist. Ach, meine Liebe, die Idee gefällt mir immer besser. Stell dir nur vor, wie er die Stätten deiner Kindheit aufsucht, deine weitverzweigte Familie kennenlernt. Blut ist und bleibt doch die stärkste Verbindung. Das wird er spüren, kaum dass er englischen Boden betreten hat. London wird ihm eine zweite Heimat werden.«
    Schmunzelnd verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und wippte auf den Fußspitzen. Sein Gebaren reizte Editha. Sie konnte nicht anders, als ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.
    »Bedenke doch nur weiter: Gelingt es Caspar, während seines Aufenthalts engere Verbindungen zu englischen Kaufleuten zu knüpfen, verschafft uns das einen riesigen Vorsprung gegenüber den anderen Königsbergern«, schmückte er seinen Plan weiter aus. »Du als seine Mutter kennst sein angenehmes Wesen selbst am besten. Im Handstreich wird er die Herzen deiner Landsleute gewinnen. Sein umfangreiches Wissen wird die Menschen beeindrucken. Davon abgesehen, werden ihm auch die verwandtschaftlichen Beziehungen von Vorteil sein. Das wiegt letztlich schwerer als alle Empfehlungsschreiben.«
    Sein Wippen auf den Fußspitzen wurde heftiger. Der kleine Vogel stimmte von neuem sein kurzes Lied an.
    »Also gut«, lenkte Editha zögerlich ein, »ich bin einverstanden, dass London oder vielmehr das Kontor meiner Familie der Ausgangspunkt für Caspars Lehrjahre in der Fremde ist. Allerdings sollten wir erst einmal meinen Bruder fragen, was er davon hält. Du weißt, was er uns in seinen Briefen über die derzeitige Lage aus London berichtet. Beruhigend klingt das nicht. Erhebt er Bedenken, warten wir lieber noch ein paar Jahre. Nein, noch besser«, sie rang sich ein gewinnendes Lächeln ab, »fragen wir Caspar doch selbst. Wenn du ihn für alt genug hältst, allein in die Fremde zu ziehen, ist er auch vernünftig genug, selbst zu entscheiden, ob er bereits dieses Jahr oder erst nächstes oder gar übernächstes aufbrechen will.«
    Sogleich rauschte sie aus der Stube. »Anna!«, rief sie ins Dunkel des Treppenhauses. Schlurfend tauchte die alte Magd auf. Ihre Holzpantinen klackten laut über den Dielenboden. »Ruf Caspar! Er soll sofort in die Stube kommen.«
    Die Alte schaute kaum auf. Der Lauf der Jahre hatte der dürren Frau den Buckel gekrümmt und das farblose Haar gelichtet. Die

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