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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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weiße Haube wirkte zu mächtig für den kleinen Kopf, die seitlichen Aufschläge daran ähnelten verhinderten Schmetterlingsflügeln. Wie sehr man sich jedoch davor hüten sollte, Anna zu unterschätzen, verrieten ihre wachen grauen Augen. Als sie sich mit einem kaum merklichen Nicken umdrehte und die Stiege zum Kontor im Erdgeschoss hinunterschlurfte, atmete Editha auf. Gleich würde Caspar mit einem entschiedenen Nein Gernots Ansinnen ein rasches Ende bereiten.

6
    E inem Windstoß milder Frühlingsluft gleich fegte Caspars gute Laune den trüben Winter aus der Wohnstube. Die grünlich braunen Augen strahlten, das dunkelblonde Haar glänzte im Sonnenlicht.
For heaven’s sake!
Sein Anblick gemahnte Editha schmerzlich an das unaufhörliche Verrinnen der Zeit. Ähnlich frisch und unbeschwert war auch Gernot einst als junger Bursche ins Londoner Kontor ihres Vaters geschneit. Waren seither tatsächlich schon zwanzig Jahre vergangen?
    »Was gibt es? Seid ihr euch nicht einig, wo der beste Platz für den neuen Schrank ist? Wo ist er denn? Wollte ihn Meister Eggers nicht heute Vormittag liefern?« Schwungvoll drehte Caspar sich um die eigene Achse, maß die gesamte Stube mit den Augen ab und zeigte schließlich mit dem ausgestreckten Zeigefinger zur hinteren Längsseite der mit dunklem Holz getäfelten Stube. »Wie wäre es dort hinten an der Wand, gleich neben dem Wandbord mit Vaters geliebten Zinnkrügen? Das Licht von den Fenstern wird die Schnitzereien an dem neuen Stück bestens zur Geltung bringen.«
    »Ein guter Vorschlag.« Stolz tätschelte Gernot dem Siebzehnjährigen die Schulter. So dicht nebeneinander wurde die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn offenkundig. Es bestand kein Zweifel, wie Caspar in zwanzig Jahren aussehen würde. Schon jetzt wölbte sich sein Leib über den dünnen, schlaksigen Beinen leicht hervor. Von der Seite betrachtet waren die Gesichtszüge des Jungen ein exaktes Abbild von Gernots. Lediglich der Bartwuchs fehlte noch, auch war seine Nase schmaler und dank eines kleinen Höckers an der Wurzel leicht gekrümmt.
    »Das entscheiden wir später«, stellte Editha klar. »Der Schrank ist an und für sich schon überflüssig. Sämtliches Geschirr und die Tischwäsche passen nach wie vor gut in die alte Eichenholztruhe meiner Eltern. Gib zu, Gernot: Er dient dir nur als Vorwand, um weitere Zinnkrüge und sündhaft teure Bücher zu kaufen.«
    Abfällig betrachtete sie die drei bereits vorhandenen Folianten auf dem Bord, die Gernot hütete wie seinen Augapfel. »Wozu sollen Bücher überhaupt gut sein? Außer törichter Verse über vergebliches Liebeswerben und überflüssige Heldentaten aus längst vergangenen Zeiten steht nichts darin. Dafür aber vernebelt einem das Lesen die Sicht auf das wirkliche Leben. Kein Wunder, dass du so einen ungesunden Hang zu gefährlichen Abenteuern hast, mein Lieber.«
    Gernot betrachtete seufzend den noch nicht abgeräumten Tisch in der Mitte des Raumes. Surrend umschwirrte eine Fliege die Reste des süßen Muses. »Nun, mein Sohn«, begann er umständlich, während er sich vor den Vogelbauer zwischen den beiden Fenstern zur Straßenseite stellte. Er musterte das Gefieder des kleinen Tieres, bevor er sich ganz dem Jungen zuwandte. »Du hast die Lateinschule abgeschlossen und erste Einblicke in die Geschäfte unseres Kontors gewonnen. Deine stetig wachsenden Kenntnisse erfreuen deine Mutter und mich jeden Tag mehr.«
    Editha warf ihm einen warnenden Blick zu. Caspars Miene verriet Ratlosigkeit. Schon wollte er etwas fragen, da besann sich Gernot, trat einen Schritt zur Seite und fuhr sich mehrmals mit der rechten Hand am Nacken entlang. Für einen kurzen Augenblick entblößte er das Feuermal. Unbeholfen platzte er heraus: »Jedenfalls sind deine Mutter und ich zu dem Schluss gekommen, du solltest für eine Weile in die Fremde reisen.«
    »Was?«
    »Erschreckt dich das, mein lieber Sohn?«, fragte Editha fürsorglich und spürte Genugtuung. Caspar mit Gernots unausgegorenen Plänen zu konfrontieren hatte schneller als erwartet die erwünschte Wirkung erzielt. »Dein Vater und ich wollen dir damit beweisen, wie viel wir bereits jetzt von deinen Fähigkeiten halten. Eigentlich bist du noch zu jung, um in die Welt geschickt zu werden. Andere müssen damit warten, bis sie neunzehn oder zwanzig Jahre alt sind. Sieh es also …«
    »Ich denke, mein Sohn«, fiel Gernot ihr ins Wort, um klarzustellen, dass er derjenige gewesen war, der zuerst den Vorschlag

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