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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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und frohgemut zu erklären: »Ihr habt mir wahrlich sehr geholfen. Auf einmal fühle ich mich wie neugeboren. Sogleich kleide ich mich an und mache mich auf den Weg, meine Kinder zu mir zu holen. Mir ist so, als ahnte ich, wo ich den lieben Caspar finde. So ein Schelm, mir einen solchen Schreck einzujagen! Trotz all seiner Klugheit ist und bleibt er ein kleiner Junge. Doch jetzt wird es Zeit, dass wir alles für die Rückkehr meines Gemahls vorbereiten. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er aus Riga eintrifft. Was wird er Augen machen, wenn er uns hier zu Hause endlich alle vereint vorfindet!«
    Befremdet zog die Hundskötterin die linke Augenbraue hoch. Editha störte das nicht im Geringsten. Geschwind schlüpfte sie in eines ihrer Kleider, streifte einen dunkelgrünen Surkot über und band sich die Schnabelschuhe um die Füße.
    »Was habt Ihr vor?«
    »Das seht Ihr doch: Ich kleide mich an, um das Haus zu verlassen.« Voller Vorfreude kämmte sich Editha das farblose dunkelblonde Haar, wand es zu einem strengen Knoten am Hinterkopf und setzte die Haube darüber. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel genügte ihr, sich zu versichern, wie perfekt das aussah. Rasch zog sie mit einem Kohlestift die Augenbrauen nach, kniff sich in die Wangen, um sie zu röten, und befeuchtete die Lippen mit der Zunge, bis sie glänzten. Dann griff sie sich zwischen die Brüste, zog das Medaillon hervor. Hastig hauchte sie einen Kuss darauf und zwinkerte der Hundskötterin zu, bevor sie es abermals im Ausschnitt ihres Surkots versteckte.
    »So, wie die Tochter die Mutter wiedergefunden hat, wird auch die Mutter ihre Tochter wiederfinden.«
    »Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr tut.«
    »Dank Eurer Unterstützung habe ich noch sie so gut wie jetzt gewusst, was ich tue.«
    Übermütig eilte sie aus dem Schlafgemach. Draußen im Flur stieß sie mit der knorrigen Anna zusammen.
»Get off, you sewer-sipping piece of crap!«,
murmelte sie und hastete an der verdutzten Magd vorbei die Treppe hinunter durch die Diele und hinaus auf die Straße.

4
    T rotz ihres gesegneten Zustands fühlte sich Editha beschwingt. Einem flügge gewordenen jungen Füllen gleich, stürmte sie in atemberaubendem Tempo die Altstädter Langgasse entlang bis zum Löbenichter Tor. Es fehlte nicht viel und sie hätte zu singen begonnen. Weder der herbstliche Nieselregen noch die verwunderten Blicke ihrer Mitbürger störten sie. Erst als sie den Anstieg in der Krummen Grube zum Löbenichter Berg zu bewältigen hatte, verlangsamte sie ihren Schritt, rang häufiger nach Luft. Je näher sie dem Haus der Streicherin kam, desto klarer trat ihr ins Bewusstsein, was sie gerade zu tun im Begriff stand: Zum ersten Mal seit mehr als siebzehn Jahren suchte sie jenen unglückseligen Ort auf, den sie nie im Leben mehr zu betreten geschworen hatte. Die Worte der Hundskötterin hatten ihr jedoch neue Zuversicht eingeflößt. Auch dass sie die rätselhaften, bitteren Tropfen noch rechtzeitig ausgespuckt hatte, mochte das Seine dazu beigetragen haben. Nie mehr sollte sie die Tinkturen der Hundskötterin schlucken. Ohne sie fühlte sie sich besser. Auf einmal war sie überzeugt: Nichts und niemand konnte sie daran hindern, sich endlich zu holen, worauf sie seit Jahren Anspruch hatte: auf die Zwillinge Caspar und Agnes!
    »Ihr?« Einen Moment zu lang glotzte die hässliche Magd der Streicherin sie an, statt ihr dienstbeflissen die Tür zu öffnen. Zumindest erkannte sie, wen sie vor sich hatte. »Was wollt Ihr?«, fragte sie weiter und entblößte dabei die weit vorstehenden Zähne. »Eure Borten haben wir Euch längst gebracht, und das ausstehende Geld, das Euer Sohn letztens noch bezahlen wollte, hat die Meisterin den Beginen im Kneiphof bringen lassen.«
    »
Silly shrew!
Ruft auf der Stelle Eure Meisterin. Ich habe mit ihr zu reden.« Editha genügte ein entschlossener Stoß mit dem Ellbogen gegen die Tür, sich Einlass zu verschaffen. In wenigen Schritten stand sie in der Diele und sah sich neugierig um.
    Das Haus der Bortenmacherin war weitaus kleiner als das ihre in der Altstadt. Im Vergleich dazu erschien ihr auch die dämmrige Diele wie ein niedriges Loch. Licht erhielt sie vor allem durch ein Fenster direkt neben der Eingangstür. Im hinteren Teil, wo sich der gemauerte Herd mit den Kochgerätschaften befand, spendete eine mehr als Luke denn als Fenster zu bezeichnende Öffnung noch ein wenig Licht. Ein hüfthoher Bottich gleich neben dem Herd verströmte einen malzigen Geruch.

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