Gold und Stein
mehr. Agnes ließ den Blick über die Menge schweifen, die aus dem Gotteshaus strömte. Die Bürger unterschieden sich kaum von denen in den drei Städten Königsbergs oder Wehlaus. Am Rand des Vorplatzes sammelten sich die einfacheren Leute, Tagelöhner, Knechte, Mägde sowie niedere Handwerkermeister. Ihre Kleidung verriet, wie wenig sie besaßen. Trotz ihrer spärlichen Mittel aber waren sie alle bestens gepflegt zur Sonntagsmesse erschienen, legten Wert auf saubere Hauben, frisch gestutzte Bärte und glänzend gebürstete Haare. Ein wöchentlicher Besuch im Badehaus gehörte zu ihrem Lohn. Mit ein wenig Abstand zu ihnen versammelten sich die Handwerkermeister und ihre Frauen. Bei ihnen fanden sich bereits elegantere Röcke, Kleider und Hosen. Die bunteren Farben und besseren Stoffe verrieten, dass sie eine eigene Sonntagstracht ihr Eigen nannten. Am besten waren die Kaufleute gekleidet, die selbstherrlich die Mitte des Platzes vor der Johanneskirche für sich beanspruchten. An ihrem selbstbewussten Auftreten war abzulesen, dass sie gewohnt waren, sich auch in der Fremde zu behaupten. Ohnehin waren viele Auswärtige unter ihnen, was an dem bunten Sprachengemisch unschwer zu erkennen war. Kaum waren die verschiedenen Sprachen zu unterscheiden.
»Gott zum Gruße!«, rief einer der Männer in einem auffällig roten Rock und schwenkte sein pelzverbrämtes Barett in ihre Richtung. Agnes kniff die Augen zusammen. Kannte sie den Mann? Schon wollte sie fragen, da wurde sie gewahr, dass er nicht sie, sondern jemand hinter ihr gemeint hatte. Neugierig folgte sie seinem Blick und erspähte nur wenige Schritte entfernt eine strahlende Schönheit von etwa zwanzig Jahren. Gerade betrat sie von Osten her den Kirchplatz und hielt direkt auf sie zu. Dem winkenden Kaufmann weiter vorn schenkte sie keinerlei Beachtung, woraufhin der enttäuscht die Hand sinken ließ.
Agnes begriff sogleich, warum er enttäuscht war: Die junge Frau war bezaubernd. Lockiges schwarzes Haar umrahmte ein ebenmäßiges, schmales Gesicht mit mandelförmigen Augen. Ein tiefroter Surkot aus feinem Samt leuchtete unter einem dunklen Umhang hervor. Gemessenen Schrittes näherte sie sich ihnen. Jede Bewegung schien wohl abgestimmt auf die nächste, ohne dass darin etwas Aufgesetztes, Unnatürliches lag. Beim Näherkommen erkannte Agnes zwei weitere Gestalten dicht hinter dem Fräulein. Es handelte sich um Laurenz sowie Meister Jagusch aus Danzig. Offenbar gehörte die Schönheit zu ihnen. Kurz bevor sie Agnes und Caspar erreichte, sah sie fragend über die linke Schulter zurück. Als Jagusch und Laurenz zustimmend nickten, lächelte sie Agnes und Caspar an.
Agnes erstarrte. Das also war die Tochter von Meister Jagusch! Ihre ärgsten Befürchtungen, die sie auf dem Ritt von Elbing nach Marienburg heimgesucht hatten, wurden wahr. Wieso hatte sie sich nach den Worten der Muhme nur eingeredet, bei Meister Jaguschs Tochter handelte es sich um ein unscheinbares Mauerblümchen, für das es eine Gnade war, von Laurenz geehelicht zu werden? Eine so begehrenswerte Frau wie diese war beileibe nicht darauf angewiesen, jemanden zum Gemahl zu nehmen, der sie nicht liebte. Gleich hier auf dem Marienburger Kirchplatz ließe sich mühelos mehr als einer finden, der würdig und willig wäre, für Laurenz einzuspringen. Sogleich war Agnes sicher, dass er es darauf nicht ankommen lassen würde. Warum sollte er freiwillig auf eine so schöne Frau verzichten? Die Kehle wurde ihr eng, unwillkürlich spielten ihre Finger mit den Zipfeln des Halstuchs. Klopfenden Herzens äugte sie zu Laurenz, versuchte, in seiner Miene einen Hinweis darauf zu finden, wie er zur Tochter seines ehemaligen Meisters stand. Zugleich streckte sie den Rücken durch. Sie wollte sich nicht verstecken. Sie war von ebensolcher Größe und schlanker Gestalt wie die andere. Ihr Auftreten war zwar weniger aufsehenerregend als das dieses schwarzlockigen Engels, aber auch sie hatte ihre Vorzüge.
»Ihr seid also die berühmten Zwillinge aus der Königsberger Altstadt. Wie schön, Euch persönlich kennenzulernen.« Die Stimme der Baumeistertochter klang dunkel. Eher schleppend kamen ihr die Silben über die Lippen. Jedes Mal öffnete sie den volllippigen Mund weiter als nötig. Kein Zweifel: Das Reden stellte eine Anstrengung für sie dar. Höflich reichte sie Agnes die Hand. Ihr Händedruck war warm und feucht. Kaum wartete sie ab, bis Agnes sie angesehen hatte, schon streckte sie auch Caspar die Hand
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