Gold und Stein
jedoch einen guten Ansatz, sich dem Denken und Fühlen der damaligen Zeit anzunähern.
Bei der Lektüre von Büchern über die Alltags- und Kulturgeschichte des fünfzehnten Jahrhunderts stolperte ich mehrmals über Bemerkungen zu Zwillingen. Seit Jahrtausenden ranken sich um deren Geburt die unterschiedlichsten Mythen. Wurde sie in manchen Kulturen als besondere Auszeichnung, göttliche Fügung oder gar höchstes Glück bezeichnet, galt sie in anderen als Gefahr. Im Mittelalter mehren sich die Belege für die Auffassung, eine Zwillingsgeburt wäre der Beweis für die Untreue der Mutter. Ein Mann, so dachte man, könne unmöglich zwei Kinder zugleich zeugen. Um den »Fehltritt« der Mutter zu vertuschen, hat man deshalb oft gleich nach der Geburt eines der Kinder getötet oder ausgesetzt.
Was aber, wenn die Mutter sich mit allen Mitteln gegen diese vermeintlich »gute« Lösung für sie wehrt? Wenn sie zwar tatsächlich Ehebruch begangen hat, aufgrund der Ähnlichkeit der Kinder aber sicher ist, dass die beiden nur
einen
Vater haben? Und wenn ihr die rechtmäßige Ehefrau des Kindsvaters unter dem Vorwand, sie vor Schande bewahren zu wollen, eines der Zwillinge wegnimmt, weil ihr eigenes Kind tot ist, das geraubte aber dem leiblichen Vater, ihrem Ehemann, wie ein Ei dem anderen gleicht, sie es also überzeugend als eigenes Kind ausgeben kann? Hat die leibliche Mutter eine Möglichkeit, ihr Anrecht auf das Kind glaubhaft zu machen? Werden sich die beiden Kinder nach der Trennung vermissen? Oder später auf Anhieb wiedererkennen? Wie wird die leibliche Mutter auf das unverhofft wiedergefundene Kind reagieren? Wie der Vater? Wie weit wird die falsche Mutter gehen, um »ihr« Kind zu verteidigen? Fragen über Fragen, die mich zu der Romanhandlung inspiriert haben. Insbesondere, als ich beim Recherchieren für meine aus England gebürtige Figur Editha darauf stieß, dass man auf der Insel den Brauch, Zwillinge als Schande der Mutter anzusehen und gleich nach der Geburt zu trennen, im späten Mittelalter wohl gar nicht kannte.
Frauen und das Bierbrauen
D eutet sich in der Einstellung zu Zwillingsgeburten eine Geringschätzung Frauen gegenüber an, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, welch bedeutende Rolle ihnen im damaligen Alltag von Kaufmanns- und Handwerkerhaushalten tatsächlich zukam. Ganz selbstverständlich vertraten sie den auf Handelsreisen befindlichen Kaufmannsgemahl im Kontor, ebenso traten sie im Todesfall eigenständig dessen Erbe an. Das galt auch in anderen Berufszweigen. Davon abgesehen, ergriffen Frauen im Mittelalter oft Berufe, die weder mit dem des Vaters, des Ehemanns oder sonst eines Familienmitglieds zu tun hatten. Neben gängigen wie Hebamme, Heilerin, Näherin oder Köchin findet sich darunter auch das Bierbrauen. Das überrascht insofern, als Bier für die Hansestädte eines der wichtigsten Exportgüter gewesen ist. Dennoch wurde es selbst in Städten wie Lübeck und Hamburg – ähnlich wie im Roman für die Königsberger Städte beschrieben – im Mittelalter noch fast ausschließlich im Nebenerwerb gebraut. Anbaugebiete für Gerste und Hopfen finden sich zu jener Zeit in vielen nördlichen Regionen, so auch rund um Königsberg. Man darf nicht vergessen: Das Mittelalter war auch in Nordosteuropa wärmer als heute. Erst die Kleine Eiszeit in der Frühen Neuzeit hat zu entscheidenden Veränderungen der Klima- und Vegetationszonen geführt. Neben Danzig, Rostock, Wismar und Stralsund galten die Königsberger Städte als wichtiger Ausfuhrhafen für Hopfen. Erst durch die zunehmende Bedeutung der Klosterbrauereien und die Etablierung des Brauens als zünftisch organisierten Handwerksberuf mit einer eigenen Rolle (= Ausbildungsregel) im Verlauf des sechzehnten Jahrhunderts wird es zu einem Männerberuf. Bis dahin oblag das Bierbrauen im Wesentlichen den Frauen, was sich davon ableitet, dass Bier aufgrund der schlechten Trinkwasser- und Brunnenqualität ein wichtiges Lebensmittel war und dass das Brauen im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert vor allem zur Selbstversorgung betrieben wurde.
Bei der Besiedelung der neu angelegten Städte im preußischen Ordensland erhielt nicht jede Hausstelle das Braurecht, ebenso wurde in der Brauordnung festgelegt, wie oft im Jahr welche Menge Bier gebraut werden durfte. So wollte man ein Überangebot an Bier vermeiden. In den Königsberger Städten Altstadt, Löbenicht und Kneiphof besaß demzufolge nicht jedes Wirtshaus das Braurecht,
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