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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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langsam nach Hause zurückzukehren. Voll dankbarer Zärtlichkeit sah Agnes ihr nach.

9
    A ls Lores schwankende Gestalt im trüben Regenschleier verschwunden war, stand Agnes immer noch reglos vor dem Hauseingang. Die Finger zupften unsichtbare Fussel aus den Falten ihres Surkots. Kalte Regentropfen rannen ihr über die Wangen. Der Wind spielte mit den Zipfeln ihres Halstuchs. Von alldem spürte Agnes nichts. Viel zu sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt. Durfte sie es wagen, Lores Rat zu folgen und im Haus des ehrwürdigen Ratsherrn Stein nach Laurenz Selege zu fragen? Was, wenn er gleich vor ihr stand? Was wollte sie ihm sagen? Und was sollte sie tun, wenn die Großmutter sich doch geirrt und er nicht ständig um ihrer selbst willen im Silbernen Hirschen nach ihr gefragt hatte, sondern weil er Gewissheit über das Feuermal haben wollte?
    »Achtung!« Ein Zimmermann balancierte einen langen Balken auf der Schulter dicht an ihr vorbei und stieß sie unwirsch an. Erschrocken sprang sie beiseite, knickte mit dem Knöchel auf einem Stein um. Jäh fuhr ihr der Schmerz in den Fuß. Sie unterdrückte einen Aufschrei.
    »Ist Euch etwas geschehen? Kann ich Euch helfen?« Eine Magd mittleren Alters tauchte hinter dem Handwerker auf. »Kommt herein und wärmt Euch an unserem Herdfeuer. Wenn Ihr noch lange draußen im Regen steht, holt Ihr Euch den Tod.«
    »Danke.« Ohne weiter nachzudenken, humpelte Agnes hinter ihr her ins Haus. Drinnen herrschte noch mehr Unordnung als vor dem Eingang. Überall in der weitläufigen Diele standen Eimer, türmten sich Mauersteine, Holzlatten oder Kisten, dazwischen lagen Werkzeuge. In einer Ecke fand sich gar ein ansehnlicher Haufen Sand. Tische, Stühle und Truhen hatte man in einer anderen Ecke aufeinandergestapelt. Die Fenster zum Hof standen offen, die beiden zur Straßenseite waren mit hölzernen Läden verschlossen. Im hinteren Teil der Diele war eine Magd mit der Zubereitung des Mittagsmahls beschäftigt. Der dunstige Qualm des Herdfeuers ließ Agnes husten.
    »Hoppla! Jetzt hat es Euch doch schon erwischt«, stellte die Frau fest, die sie ins Haus gebeten hatte. Flugs eilte sie zu einer Truhe und zog ein Leinentuch heraus. »Trocknet Euch damit ab. Am besten stellt Ihr Euch gleich zum Feuer hinüber, das wärmt Euch auf. Geht es mit Eurem Fuß wieder besser?«
    Besorgt wies sie mit der Hand nach unten. Agnes schluckte die Tränen hinunter und nickte stumm. Das Auftreten tat zwar nach wie vor weh, aber sie wollte nicht jammern.
    »Oh, wer kommt denn da?« Eine zweite Magd, die einen halbzerfallenen Kohlkopf für die Suppe kleinschnitt, sah ihr neugierig entgegen. Sobald sie Agnes’ Hinken bemerkte, unterbrach sie ihre Arbeit und rückte einen Schemel heran. »Hier, setzt Euch darauf. Seid Ihr nicht die Tochter der Fröbelin aus dem Silbernen Hirschen? Was führt Euch zu uns? Sicher wollt Ihr zu unserer Herrschaft. Wartet, gleich bringt Euch jemand nach oben.«
    Sie legte das Messer beiseite, mit dem sie eben noch die Reste des Gemüses gehackt hatte, trocknete die Finger an der Schürze. Achtlos versetzte sie einer gestreiften Katze, die ihr um die Beine schlich, einen Tritt. Zuvorkommend half sie Agnes, sich hinzusetzen und mit dem leinenen Tuch das Haar zu trocknen. Sofort war die Katze wieder da und rollte sich zu Agnes’ Füßen zusammen. »Fort mit dir!«, fauchte die Magd das Tier an, Agnes beugte sich jedoch vor und strich der Katze durch das wunderbar flauschige Fell, bis sie zufrieden schnurrte und den Kopf gegen ihr Bein rieb.
    »Ihr mögt wohl Tiere, oder besser, die Tiere mögen Euch«, bemerkte die Magd und begann, ihr die Zöpfe neu zu flechten. Es bereitete ihr sichtliches Vergnügen, sie seitlich über den Ohren zu artigen Schnecken zu rollen. Als sie ihr das Halstuch lösen wollte, wehrte Agnes ab.
    »Lass ihr das Tuch um den Hals. Das nimmt sie niemals ab«, ertönte eine dunkle Männerstimme von der Treppe. Agnes und die Magd fuhren herum. Im trüben Licht der Diele sprang Laurenz Selege mit federnden Schritten die Stufen herab. Agnes spürte, wie ihr das Herz bei seinem Anblick bis zum Hals schlug. Sie wollte sich abwenden, konnte den Blick aber nicht von ihm lösen. Wieder betonte die ausgewählt gute Kleidung seine schlanke Gestalt. Verschiedenfarbige Strümpfe griffen spielerisch die grüne und blaue Farbe der Augen auf, der knappe Rock passte zur schmalen Taille und hob das breite Kreuz hervor. Der Rock war ebenfalls zweifarbig in einem warmen Rot und

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