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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Schlepptau fegte ein erster Regenschauer durch die Gassen. Nach wenigen Schritten klebte ihr das Haar nass auf dem Kopf. Frierend zog sie die Arme eng vor die Brust, barg die Hände unter den Achseln und stemmte sich mit vorgeneigtem Oberkörper gegen Wind und Regen. Das Straßenpflaster war glitschig. Oft schlitterte sie mehr, als dass sie richtig laufen konnte. Zum Glück waren nur wenige Menschen unterwegs. Ein einzelnes Fuhrwerk ruckelte zum Markt, dumpf schlugen die leeren Fässer darauf gegeneinander. Auch die Händler mit den Kiezen auf dem Rücken machten sich an diesem Vormittag rar. Missmutig hockte eine Kräuterfrau an der Ecke zur Hintergasse, mehr darum bemüht, ihre Schätze im Korb vor Wind und Wetter zu schützen, als nach Kundschaft Ausschau zu halten. Fensterläden und Türen der Werkstätten waren fest verschlossen.
    Am Marktbrunnen ausgangs der Rechten Gasse hatten sich dem Regen zum Trotz einige Frauen versammelt. Die Umhänge fest um Kopf und Schultern gezogen, redeten sie aufeinander ein. Agnes wollte sich an ihnen vorbeischlängeln, da erspähte sie Großmutter Lore. Lachend schwatzte sie mit einer Frau aus der Badergasse. Agnes senkte den Blick, wollte rasch weiter, doch es war zu spät. Lore hatte sie entdeckt.
    »Wo kommst du her? Schickt dich deine Mutter, mich zu holen?« In ihrer Stimme klang das schlechte Gewissen deutlich mit. Das erleichterte Agnes. Verschwörerisch zwinkerte sie Lore zu. »Keine Sorge, Großmutter, du musst nicht nach Hause. Griet kommt in der Schankstube gut allein zurecht. Es sind kaum Gäste da. Lass dir also ruhig Zeit. Mutter und Ulrich sind im Sudhaus beim Brauen. Sie hat wohl noch gar nicht bemerkt, dass du weg bist. Doch verzeih, ich muss weiter. Ich habe Wichtiges zu erledigen.«
    »Was hast du denn so Wichtiges zu erledigen? Es muss sehr dringend sein, wenn du ohne Umhang im Regen herumläufst.« Lore war hellhörig geworden. »Mich wundert, dass Gunda dich überhaupt hat gehen lassen. Sind nicht die neuen Fässer geliefert worden? Da wird sie jede Hilfe im Sudhaus brauchen.«
    »Deshalb solltest du eigentlich statt meiner in der Schankstube sein. Erzähl mir nicht, du wolltest Wasser holen. Dazu brauchst du nur von der Küche in den Hof zu laufen.«
    »Kind!«, versuchte sich Lore an einem strengen Ordnungsruf. Als Agnes sich nicht beeindrucken ließ, schwand auf Lores faltigem Antlitz der Ärger und machte einem wissenden Schmunzeln Platz. »Wie es aussieht, sind wir beide ohne Gundas Billigung fortgegangen. Verrat mir lieber gleich, was dich bei diesem scheußlichen Wetter zum Markt treibt. Botengänge lässt deine Mutter neuerdings kaum von dir erledigen.«
    Längst hatte Lore sich bei ihr untergehakt und sie vom Brunnen weggezogen. Seite an Seite gingen sie weiter. Lores Gang war unbeholfen. Die breiten Hüften und die über die Jahre krumm gewordenen Beine erschwerten ihr die Bewegung. »Ich bin schon zu lang auf Gottes wunderbarer Erde unterwegs, um nicht zu spüren, wenn ein junges Mädchen wie du anfängt, Geheimnisse vor seiner Mutter zu haben. Selbst wenn du es dir nicht vorstellen kannst: Auch ich war einmal jung. Dein Großvater Ewald, Gott sei seiner armen Seele gnädig, hat mich mehr als einmal unter einem Vorwand aus dem Haus meiner Eltern gelockt, ohne dass meine Eltern oder Geschwister etwas geahnt hätten. Niemand durfte wissen, dass wir uns heimlich treffen.«
    Sie blieb stehen, blickte schwärmerisch in die Ferne und scherte sich nicht um den Regentropfen, der von ihrer Haube mitten auf ihre Nase gefallen war. Agnes jedoch verfolgte ihn gebannt. Zunächst verharrte er auf dem Höcker, der sich knapp unterhalb der Nasenwurzel erhob. Zäh rann er weiter den schmalen, langen Grat hinab bis zur Nasenspitze und tropfte träge ins Leere.
    »Mein guter Ewald, das war ein Mann!« Gerührt wischte Lore sich übers regennasse Gesicht. »So ein grausames Ende kurz vor dem Ziel unserer Reise hat er nicht verdient.«
    Ein Zittern durchlief ihren Körper, um die Mundwinkel zuckte es. Auf einmal wirkte sie sehr zerbrechlich.
    Unter lautem Getöse krachte keine fünf Schritte entfernt ein dicker Balken zu Boden. Entsetzt schrien die Handwerker auf, auch die wenigen Leute auf dem Markt fuhren herum. Der Lärm brachte Lore wieder zurück in die Gegenwart. »Schade, dass du meinen guten Ewald nie kennengelernt hast. Er hätte dir gefallen, Liebes.«
    Ein scheues Lächeln huschte ihr übers Gesicht. Verstohlen tupfte sie sich mit dem Zipfel ihrer Heuke die

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