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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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vernarrt. Sie war ebenso schön, wie du jetzt bist, großgewachsen, klug. Sie hat viel von Ewald geerbt, meinem seligen Mann, ihrem guten Vater. Jeden Tag sehe ich das in all ihren Bewegungen, höre es an dem, was sie sagt, wie sie denkt. Durch und durch ist sie Ewalds Kind.«
    Als Agnes ihre leuchtenden Augen sah, begriff sie, dass Lore Ewald bis in alle Ewigkeit liebte. Der Tod hatte sie nicht voneinander trennen können. Seither waren achtzehn Jahre vergangen, in etwa so viel Zeit, wie sie an seiner Seite verbracht hatte. Das musste wahre Liebe gewesen sein! Der Gedanke rührte Agnes. Plötzlich sah sie Laurenz Seleges verschiedenfarbige Augen vor sich, hörte seine wohlklingende Stimme. Wie sehnte sie sich danach, einmal ähnlich stark wie die Großmutter zu lieben!
    »Agnes, Kind, was ist?« Lore legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie zärtlich an den weichen Busen. »Wahre Liebe ist wunderschön, mein Kind! Ich bete für dich, dass du sie bald am eigenen Leib erfährst.«
    Behutsam schob sie sie von sich weg, strich eine vor Nässe triefende Haarsträhne aus ihrer Stirn und ließ die Hand länger als nötig an ihrer Wange ruhen.
    »In den letzten Tagen hat übrigens immer wieder jemand nach dir gefragt, Liebes.«
    »Wer?«
    Statt zu antworten, griff die Großmutter nach ihrer Hand und zog sie an den wenigen besetzten Brot- und Fleischbänken vorbei zu einem zweistöckig aufragenden Haus mit einem hohen Stufengiebel, der sich fast mit dem des Rathauses messen konnte. Weit stand die Eingangstür offen, geschäftig eilten Handwerker, Knechte und Mägde hinein und heraus, trugen Werkzeuge, Holz und Steine sowie Körbe mit Brot und Gemüse an Agnes und Lore vorbei. Ein erdiger Geruch zog aus der Diele zu ihnen heraus. Im Innern des Anwesens befand sich eine große Baustelle, wie der ohrenbetäubende Lärm verriet.
    »Ich kenne seinen Namen nicht«, sagte Lore. »Nie zuvor habe ich ihn bei uns in der Schankstube gesehen. Doch eins weiß ich genau, mein Kind: Er meint es ernst. Warum sonst hat er jeden Tag nach dir gefragt?«
    »Bist du sicher?« Ungläubig starrte Agnes sie an.
    »Was denkst du, Liebes? Eine alte Frau wie ich sollte wissen, wie es um einen jungen Mann steht, der nicht müde wird, nach einem jungen Mädchen zu fragen.« Sie stieß ein keckerndes Lachen aus. »Kindchen, Kindchen! Dich muss es ebenfalls ernsthaft erwischt haben, wenn du derart ängstlich fragst, ob er dich tatsächlich will. Höchste Zeit, dass du dir selbst Gewissheit verschaffst.«
    »Ach, Großmutter, wie soll ich mir nur Gewissheit verschaffen? Noch dazu, wo die Mutter nicht will, dass ich ihn wiedersehe.«
    Bei diesem Gedanken raste ihr Herz noch schneller. Lore durfte nicht erfahren, warum Gunda das verhindern wollte. Am Ende würde sie dann auch …
    »Wozu hast du eine lebenserfahrene Großmutter?«, platzte Lore gut gelaunt in ihre trüben Gedanken. »Habe ich dir vorhin nicht erzählt, wie dein Großvater und ich uns früher heimlich zu treffen wussten? Ich mag zwar alt und grau geworden sein, doch was es heißt zu lieben, das habe ich nicht vergessen. Also habe ich mich ein bisschen für dich umgehört. Die Frauen drüben am Brunnen haben mir erzählt, wo dein Liebster zu finden ist. Sein schwarzer Bart allein hätte nicht gereicht, um ihn aufzuspüren. Seine besonderen Augen aber sind es, die jedem sofort auffallen. So einen Blick vergisst man nicht. Geh nur rasch hier hinein. Oben im ersten Stock, gleich in der Wohnstube bei Konrad Stein und seiner Frau Edeltrude wirst du ihn finden. Er ist der Baumeister und beaufsichtigt den Umbau ihres Hauses.«
    »Aber wie kommst du … Was soll ich tun? Ich kann doch nicht einfach … Ach, Großmutter, das geht doch alles gar nicht!« So nah am Ziel ihrer geheimen Wünsche packte Agnes schiere Verzweiflung. Flehentlich sah sie die alte Frau an.
    »Du machst das schon, Liebes, davon bin ich überzeugt.« Lore reckte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich gehe zurück und erkläre deiner Mutter, dass du für mich noch etwas zu erledigen hast. Keine Sorge, ich lüge nicht. Das ist die volle Wahrheit, mein Kind! Immerhin hast du von mir die Aufgabe, die Sache mit deinem Liebsten in Ordnung zu bringen. Ich wünsche dir viel Glück. Denk daran: Manche Gelegenheiten bekommt man nur einmal im Leben. Umso wichtiger ist es, sie zu nutzen.«
    Damit zog sie die Kapuze ihrer Heuke tiefer ins Gesicht und wandte sich ab, in ihrem wiegenden Gang

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