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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Geschichte im Löbenicht ist zu lange her. Ich war damals zehn Jahre alt. Wie will ich das heute noch so genau wissen? Es hat keinen Sinn, sich noch länger damit zu beschäftigen.«
    Das Lächeln, mit dem er die letzten Worte begleitete, überzeugte sie nicht. Starr sah sie ihm in die Augen, hoffte, in dem Grün oder Blau eine Antwort, wenigstens einen zarten Hinweis auf die quälende Frage zu erhalten, die plötzlich mit gewaltiger Heftigkeit in ihr aufbrach: Wie hatte Gunda sie all die Jahre so schändlich belügen können? Und nicht allein ihre Mutter, auch Großmutter Lore sowie der gute alte Fröbel hatten von dem Trug gewusst und mitgespielt. Aber warum? Was hatte Gunda Schlimmes zu verbergen?
    Eine eisige Windböe erfasste sie von hinten, bauschte den Stoff ihres Surkots auf und zerrte an dem Umhang, den Selege für sie von den Mägden geborgt hatte. Es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten. Der Fuß schmerzte, als sie ihn belastete. Sie schwankte, kippte nach vorn und sackte gegen Seleges Brust. Fest schlossen sich seine Arme um ihren Leib. Das Ohr genau über der Stelle, an der sein Herz pochte, beschleunigte sich ihr Atem. Auch Selege holte vor Aufregung immer heftiger Luft. Unwillkürlich hob sie den Kopf, öffnete halb die Lippen und merkte erstaunt, wie er sich im selben Moment zu ihr herunterbeugte und seinen Mund auf den ihren presste. Mit einem leisen Aufstöhnen verschloss er ihre Lippen mit den seinen.
    Überrascht schmeckte sie ihn, fühlte seine Zungenspitze vorsichtig in ihre Mundhöhle stoßen, erst zaghaft über ihre Zähne fahren und dann kühner mit ihrer Zunge spielen. Verzückt gab sie sich dem seligen, noch nie zuvor erlebten Küssen hin. Er zog sie enger zu sich heran, schmiegte seinen starken, warmen Körper an ihre Rundungen.
    Vergessen waren Raum und Zeit, selbst der Anlass für ihr Zusammentreffen rückte in weite Ferne. Nie sollte dieser Moment der Einigkeit zu Ende gehen. Umso entsetzlicher empfand Agnes die plötzliche Kälte, als er sich viel zu jäh von dem Kuss zurückzog. Noch schlimmer war, dass er sie zugleich mit den Armen von sich stieß.
    »Nein!«, erklärte er mit zitternder Stimme. Seine eigenartigen Augen suchten nach einem Punkt, an dem sie Halt finden konnten. »Verzeiht vielmals, Teuerste, aber ich habe mich gerade wohl völlig vergessen.«
    Er sah zu Boden, wischte mit der Hand über den Mund, als wollte er sie und die Erinnerung an den leidenschaftlichen Kuss wegwischen.
    Das traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie wollte etwas sagen, ihn anflehen, sie wieder zu umarmen und noch einmal so zu küssen. Wie gelähmt aber stand sie vor ihm, einzig dazu imstande, ihn ratlos anzustarren.
    »Es ist wohl besser, wir belassen alles so, wie es ist.« Seine Stimme klang belegt. »Glaubt mir, Liebste: Die Begegnung mit Euch hat mich zutiefst berührt. Das muss mich dazu verleitet haben, einiges durcheinanderzubringen. Vergesst, was ich Euch erzählt habe, vergesst um Gottes willen diese alte Geschichte mit den Zwillingen im fernen Königsberg. Und vergesst vor allem, dass wir beide uns überhaupt je begegnet sind. Wir haben keine gemeinsame Zukunft.«
    »Wie könnt Ihr das sagen? So einfach kann ich Euch nicht vergessen! Nicht, nachdem wir beide uns gerade so nah gewesen sind. Ich spüre doch, was ich Euch bedeute. Das ist alles, was jetzt noch zählt. Es muss einen Weg für uns beide geben, bitte!«
    Bang fasste sie nach seiner Hand, umschloss sie mit beiden Händen, ertastete die verkrüppelten mittleren Finger. Tränen standen ihr in den Augen. Verzweifelt suchte sie seinen Blick.
    »Agnes, Liebste«, wand er sich eine Weile, schaute erst ziellos in die Ferne, studierte dann die nähere Umgebung und grüßte einen Maurer, der mit einer Trage voller Steine dicht an ihnen vorbei zum Haus der Steins hastete. »Es ist besser so, glaubt mir.«
    Er hob ihre Hände zum Mund, hauchte einen zarten Kuss darauf, beließ seine Lippen noch eine ganze Weile auf ihren Fingern, klammerte sich daran fest wie ein Ertrinkender an den rettenden Balken im Fluss.
    »Aber warum?« Agnes konnte es nicht begreifen. »Was ist nur in Euch gefahren, dass Ihr mich so jäh zurückweist? Eben noch habt Ihr Euch gefreut, mich zu sehen. Jeden Tag habt Ihr im Silbernen Hirschen nach mir gefragt. Was habe ich Euch getan? Vergesst nicht: Ihr wart derjenige, der die nie gekannte Sehnsucht in mir geweckt, mich mit den süßesten Gefühlen zu Euch gelockt hat.«
    »Verzeiht, Agnes, bitte verzeiht.«

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