Gold und Stein
mehr. Eine Ahnung dessen, was Griet seit Wochen so glücklich machte, erfüllte sie. Mit neuen Augen betrachtete sie die Welt um sich her.
Die Zimmerleute, Maurer und Steinmetze, die sie vorhin noch ungeduldig beiseitegeschoben oder missgünstig angeschaut hatten, erwiesen sich auf einmal als äußerst wohlerzogen. Zuvorkommend grüßten sie, räumten ihnen den Weg frei, buckelten vor Selege, auch wenn sie ihm vom Alter her um Jahre voraus waren. Selbst die Händler an den spärlichen Marktbuden zollten ihnen ehrfürchtige Aufmerksamkeit. Selege führte sie in leichtem Bogen zum äußeren Rand des Marktes, wo die Pflasterung wieder ebener wurde und sie unbehelligt von neugierigen Blicken waren.
»Welch glücklicher Zufall, Euch ausgerechnet im Hause der Familie Stein zu begegnen«, begann er nach einer Weile. »Eine gute Woche ist es schon her, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Zwar bin ich der Einladung Eurer verehrten Frau Mutter gefolgt und war nahezu jeden Tag im Silbernen Hirschen. Doch weder sie noch Euch habe ich dort angetroffen. Es war, als wärt Ihr beide vom Erdboden verschluckt.«
»Meine Mutter und ich haben viel im Sudhaus zu tun. Nach den warmen Tagen letzte Woche sind unsere Biervorräte arg geschrumpft. Nichts aber ist schlimmer für ein Wirtshaus als leere Bierfässer.«
»Noch dazu, wenn das Bier so beliebt ist wie das Eure«, ergänzte er. »Inzwischen mag ich es gar nicht mehr missen. Meine tiefste Verehrung an die Braumeisterin, Eure Mutter.«
Wieder deutete er eine galante Verbeugung an und blieb nah vor ihr stehen. Eindringlich suchte er ihren Blick. Agnes errötete und senkte den Kopf.
»Hat sich Eure verehrte Frau Mutter von dem Schreck unseres Zusammentreffens erholt? Mir schien, die Begegnung mit mir hat sie völlig überrumpelt. Dabei liegt mir nichts ferner, als jemanden in Verwirrung zu stürzen. Richtet ihr bitte aus, wie sehr ich es bedaure, die Ursache für Unannehmlichkeiten zu sein.«
»Macht Euch keine Sorgen.« Langsam hob Agnes den Blick. »Ihr tragt nicht die geringste Schuld an der Unpässlichkeit meiner Mutter. Sie kann den Geruch von Leder nicht ertragen. Auf dem Markt ist sie dem Stand eines Gerbers zu nah gekommen. Geschieht das, vergisst sie oft, was sie sagt oder tut. Leder raubt ihr schier die Sinne.«
Ohne nachzudenken, übernahm sie Gundas fadenscheinige Erklärung für ihr merkwürdiges Verhalten letztens. Dabei glaubte sie sie selbst nicht.
»Meine Mutter ist diese Gunda Kelletat aus dem Löbenicht, nicht wahr?«, hörte sie sich plötzlich fragen und erschrak. Ohne nachzudenken, fügte sie hinzu: »Sie hat Euch erkannt und beim Namen genannt. Das ist kein Zufall mehr.«
»Ich glaube, Ihr täuscht Euch. Wir alle täuschen uns.«
»Was?« Sie meinte, ihren Ohren nicht zu trauen. Seleges Zaudern brachte sie auf. Wütend riss sie sich das Tuch vom Hals, drehte den Nacken zu ihm hin und wies mit dem Finger auf das Feuermal. »Niemand von uns täuscht sich, das wisst Ihr so gut wie ich. Seht Euch doch genau an, was ich hier am Hals trage! Ihr selbst habt bei unserer ersten Begegnung daran gezweifelt, dass das Schicksal mehrere Menschen desselben Alters mit demselben Mal gezeichnet hat. Noch dazu, wenn die Mütter jeweils Gunda heißen und ebenfalls dasselbe Alter haben.«
»Aber es muss so sein«, erwiderte er in ruhigem Ton, während er ihr das Tuch aus der Hand nahm und es ihr behutsam wieder um den Hals legte. Mit den beiden steifen Fingern der rechten Hand gelang es ihm nicht gleich, den Knoten zu binden. Deshalb beugte er sich nah zu ihr.
Jede Pore seines Gesichts konnte sie betrachten, spürte seinen Atem auf der Haut, bemerkte das leichte Zittern der dunklen Barthaare. Eben noch wäre diese Nähe für sie das Tor zum Paradies gewesen. Nun wischte sie zornig seine Hand beiseite. Das entlockte ihm ein beschwichtigendes »Scht«, und er mühte sich weiter mit dem Knoten ab. Vor Rührung über diese Geste verebbte ihre Wut so rasch, wie sie gekommen war.
»Es bleibt uns gar keine andere Wahl, als an den großen Zufall zu glauben.« Der sanfte Ton seiner Stimme beschämte sie. »Verzeiht, wenn ich Euch verwirrt habe, und lasst uns alles so nehmen, wie Ihr selbst es bei unserer ersten Begegnung gesagt habt: Ihr lebt hier in Wehlau, seid die Tochter eines kürzlich verstorbenen, angesehenen Bürgers der Stadt und habt keinen Bruder. Eure Mutter ist die hochgeschätzte Witwe Gunda Fröbel, wie alle hier wissen. Ich muss mich also geirrt haben. Die
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