Gold und Stein
Augenwinkel trocken.
Auf der Baustelle war nichts geschehen. Bald war das stete Klopfen und Hämmern wieder zu hören, das das Errichten eines kleinen Anbaus am Haus des Ratsvorsitzenden begleitete.
»Was ist mit Mutter?«, fragte Agnes. »War sie nicht auch einmal jung und richtig verliebt? In meinen leiblichen Vater vielleicht? Wer ist das überhaupt? Warum erzählt sie nie von ihm? Fröbel hat mir doch auch nie verschwiegen, dass er nicht mein richtiger Vater ist.«
Mitten auf dem Markt blieb sie stehen. Der weite Platz war nahezu menschenleer. Der Regen hatte nachgelassen, auch der Wind flaute ab.
»Das muss Gunda dir selbst sagen. Da mische ich mich nicht ein.« Lores Erwiderung klang schroff. Als sie Agnes’ erschrockenes Gesicht bemerkte, schob sie beruhigend nach: »Denke nur nicht, sie wäre nie in Fröbel verliebt gewesen! Nur, weil er so viel älter gewesen ist als sie, heißt das nicht, sie hätte ihn allein aus Vernunft geheiratet. Wahre Liebe kennt kein Alter. Das hat deine Mutter erkannt und ihr großes Glück mit Fröbel gefunden.«
»Das muss ziemlich schnell nach der Geschichte mit meinem leiblichen Vater gewesen sein«, überging Agnes Lores Versuch, von ihrer Frage abzulenken. »Ich war gerade mal ein Jahr alt, als Gunda Fröbel geheiratet hat. Gab es da eigentlich noch ein zweites Kind, einen Zwillingsbruder vielleicht?«
»Wie kommst du darauf?« Wieder reagierte Lore ungewohnt brüsk, um sich sogleich wieder eines Besseren zu besinnen: »Ach, Liebes, lass es gut sein mit dieser Fragerei. Es reißt nur alte Wunden auf. Die Angelegenheit mit deinem leiblichen Vater war für Gunda eine furchtbare Erfahrung. Nach allem, was wir auf unserer Reise von Dortmund ins Ordensland erlebt haben, ist es überhaupt ein Wunder, dass der gute Fröbel deine Mutter wieder das Lachen gelehrt und ihr den Glauben an das Leben zurückgegeben hat.«
»Was ist damals auf eurer Reise eigentlich genau geschehen?«, bohrte Agnes weiter und spielte mit dem Tuch um ihren Hals. »Willst du mir nicht wenigstens davon mehr erzählen?«
»Aber das weißt du doch längst alles«, erwiderte Lore mit leiser Verzweiflung und wollte weitergehen. Agnes hielt sie zurück. Widerstrebend sagte sie schließlich: »Dein Großvater, deine Mutter und ich, wir waren zusammen mit anderen Kaufleuten auf dem Weg nach Königsberg …«
»Nach Königsberg?«, hakte Agnes überrascht nach. »Sonst hast du immer gesagt, ihr hättet nach Wehlau gewollt.«
»Habe ich das? Vielleicht hast du recht, ja, genau, natürlich war es Wehlau. Wie konnte ich das nur durcheinanderbringen? Es muss am Wetter liegen. Dieser ständige Wechsel zwischen warm und kalt bringt eine alte Frau wie mich ganz durcheinander.«
»Du bist noch lange keine alte Frau! Warum willst du mir nicht einfach die Wahrheit sagen? Wohin wart ihr damals wirklich unterwegs?«
»Aber das weißt du doch!« Lore erschrak selbst ob der Lautstärke, mit der sie das ausgerufen hatte. Deutlich leiser fuhr sie fort: »Wir wollten an den Pregel. Kurz vor unserem Ziel wurden wir von Räubern überfallen. Die haben deinen Großvater vor unseren Augen getötet. Nie im Leben werde ich den Moment vergessen, in dem mein geliebter Ewald in meinen Armen seinen letzten Atemzug getan hat!«
»Das tut mir leid. Ich wollte dir nicht weh tun.« Agnes schämte sich ihrer Taktlosigkeit.
»Schon gut, Liebes. Du bist noch jung und hast zum Glück kein solches Leid erlebt. Ich hoffe, das bleibt dir für alle Zeit erspart.« Lore legte ihr die Hand auf den Arm, lächelte milde. »Deine Mutter und ich haben damals einzig unser nacktes Leben retten können. Für eine Weile haben wir Zuflucht in einer kleinen Stadt gefunden. Dort hat deine Mutter deinen leiblichen Vater geheiratet. Du wurdest geboren, er ist kurz darauf gestorben. Um das zu vergessen, sind wir weiter nach Wehlau gezogen. Der gute Zacharias Fröbel hat sich unserer angenommen, hat sich in deine Mutter verliebt und sie sich in ihn. Sie haben geheiratet und sind sehr glücklich miteinander geworden. Den Rest kennst du.«
Kaum hatte sie die letzten Worte ausgesprochen, wurde ihr Mund zu einem schmalen, geraden Strich. Ihre Augen blickten starr, jeder Anflug von Lächeln war aus ihrer Miene gewichen.
»Du siehst, mein Kind«, hub Lore noch einmal an, »nach all dem Unglück war es ein sehr großes Glück für Gunda, dem guten Zacharias Fröbel zu begegnen. Durch seine Liebe wurde alles gut. Vom ersten Augenblick an war er in deine Mutter
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