Gold und Stein
Schultern, suchte den Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen. »Natürlich ist Reuß von Plauen mit seinen Truppen in Wehlau angekommen. Mit Schiffen sind sie den Pregel hinaufgefahren. Vermutlich hofft er, die Stadt vom Fluss her leichter einnehmen zu können. Fürs Erste aber bleiben die Tore fest verschlossen und die Mauern gut bewacht. Sowohl die Deutschordensritter als auch die Wehlauer liegen abwartend in ihren Stellungen. Es kann Tage, wenn nicht gar Wochen dauern, bis sich etwas tut. Derzeit bleibt uns nur zu hoffen, dass alles gut endet.«
»Was ist mit Mutter und Großmutter? Hat der Bote dazu etwas sagen können? Der Silberne Hirsch liegt viel zu nah an der Stadtbefestigung und am Alletor. Lang werden sie dort nicht vor Angriffen von außen geschützt sein. Da nützen ihnen all die wunderbaren Schanzen gar nichts.«
»Mach dir keine Sorgen, Liebelein«, versuchte er noch einmal, sie zu besänftigen. Behutsam hob er die rechte Hand mit den beiden steifen mittleren Fingern und strich ihr eine braune Haarsträhne aus der Stirn. Sie erzitterte. Wie lange war er ihr schon nicht mehr derart nahegekommen? Zu ihrem Bedauern rückte er gleich wieder von ihr ab und wandte den Blick zum Fluss, sah eine unerträglich lange Zeit schweigend aufs Wasser. Die Mittagssonne zauberte funkelnde Silberstreifen darauf.
»Es ist noch ein weiterer Bote hier eingetroffen. Er hat mir die Nachricht überbracht, dass ich dringend bei der Marienburg erwartet werde. Du weißt, der Orden hat sie im letzten Jahr den böhmischen Söldnern als Sicherheit für den ausstehenden Sold geboten. Wenn die Kreuzherren nicht zahlen, werden die Böhmen die Burg besetzen. Das will der Hochmeister um jeden Preis verhindern. Deshalb schickt er nach Baumeistern wie mir, um neue Wälle aufrichten zu lassen. Offenbar will er den Söldnern beweisen, wie wenig er daran denkt, auf ihre Forderungen einzugehen.«
»Bitte geh nicht!«, flehte sie. »Dort ist es viel zu gefährlich! Früher oder später wird es zu Kämpfen kommen. Was soll ein Baumeister wie du dann noch ausrichten? Bleib hier! Drüben in der Burg gibt es genug zu tun.«
»Das geht alles nicht so einfach, wie du dir das vorstellst, Liebelein. Als Baumeister bin ich vom Orden verpflichtet, ich muss …«
»Du musst gar nichts!« Zornig sprang Agnes auf, ballte die Hände zu Fäusten. »Wieso stehst du einmal in Diensten des Ordens, und ein anderes Mal verdingst du dich als Baumeister bei Leuten wie den Steins oder Haude in Wehlau? Auf welcher Seite stehst du überhaupt?«
»Auf keiner, Liebelein.« Bedächtig erhob er sich und stellte sich vor sie. Über sein feines Gesicht huschte ein Schmunzeln, das blaue und das grüne Auge strahlten sie um die Wette an. Er fasste sie an den Händen und zog sie zu sich heran. »Ich bin Baumeister, kein Söldner. Für mich gibt es keine Seite, auf der ich zu stehen habe. Seit Jahr und Tag ziehe ich durch die Lande und baue, was zu bauen ist, ganz gleich, ob es sich um eine Ordensburg für die Kreuzherren oder um das Haus eines zu Geld gekommenen Handwerkers wie Haude oder den Ausbau eines stolzen Besitzes wie der von Ratsherr Stein handelt. Die Ereignisse der letzten Monate haben mir viele Aufträge verschafft. Zum einen haben die Bürger beim Sturm auf die Ordensburgen reichlich Steine und Mauerwerk erbeutet, um sich prächtige Steinhäuser zu errichten. Zum anderen dringen die Ordensritter darauf, die geschleiften Festungen rasch wieder aufzubauen und durch zusätzliche Mauern noch besser zu schützen. Ebenso gehen die Städte dazu über, weitere Wälle errichten zu lassen. Das alles macht ein Baumeister, wie ich einer bin, ohne für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Allerdings verpflichten mich mitunter Verträge, vor Jahren begonnene Bauwerke wie zum Beispiel auf der Marienburg bei Bedarf und auf Wunsch des Bauherrn fortzusetzen. Deshalb komme ich nicht umhin, dem Ansinnen des Hochmeisters Folge zu leisten. Kannst du das verstehen?«
»Verzeih. Es ist nur, weil ich so wenig von dir weiß«, murmelte sie und musterte ihn. Er war zwar weitaus kräftiger, aber nicht viel größer als sie. Fast konnte sie ihm direkt in die Augen sehen. Verlegen schluckte sie. Nach wie vor schlug seine Nähe sie in Bann.
»Vertraust du mir etwa nicht?« Fest umschlang er sie mit den Armen, presste sie eng gegen die Brust. Gierig sog sie den Duft seines Leibes ein. »Du magst es vielleicht anrüchig finden, dass ich für alle Seiten arbeite, doch ich ergreife
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