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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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einige Zeit braucht, um es zu begreifen. Doch das wird sie, vertrau mir!«
    »Danke, Großmutter!«, war alles, was Agnes herausbrachte. Langsam drehte sie sich um und ging zur Tür. Lore folgte ihr, wie sie an dem leisen Schlurfen hinter sich hörte. Kaum hatte sie die Tür erreicht, hielt die Großmutter sie noch einmal am Arm zurück.
    »Versprich mir noch eines, Liebes! Sei deiner Mutter nicht gram!« Sie fasste nach Agnes’ Hand und drückte sie fest mit beiden Händen. »Komm eines Tages zurück und mach deinen Frieden mit ihr. Sie kann oft nicht so, wie sie eigentlich will. Niemand leidet mehr darunter als sie selbst. Das aber heißt nicht, dass sie dich nicht liebt. Es gibt einen Grund für ihr Verhalten. Irgendwann wird sie ihn dir nennen. Bis dahin musst du wissen: Alles, was sie je getan hat, hat sie aus Liebe zu dir getan.«
    »Ich weiß«, hauchte Agnes, beugte sich vor und küsste Lore auf die Wange. Die runzelige Haut schmeckte trocken. Rasch wandte sie sich ab und schlüpfte aus der Tür hinaus.
    Ein letztes Mal streifte ihr Blick über die Fassade des Silbernen Hirschen. Stolz ragte der hohe Giebel aus der Reihe der Steinhäuser empor. Lediglich das Witoldsche Haus wirkte größer und prächtiger. Im Osten graute bereits der Morgen. Höchste Zeit, zum Pregeltor zu gelangen. Bald öffneten die Pforten. Sie hatte mit Laurenz vereinbart, als eine der Ersten aus der Stadt zu gehen. Die Wachleute waren ihr gut, sie würden sie nicht aufhalten. Zum Dank hatte sie ihnen gestern noch eine Kanne des beliebten Fröbelschen Biers gebracht. Laurenz hatte Wehlau bereits am Vorabend durch das Alletor verlassen und erwartete sie an der breiten Eiche auf halbem Weg zum Fluss hinunter.
    Klopfenden Herzens schritt sie aus. Die lichter werdende Nacht ängstigte sie nicht. Jedes Geräusch schien ihr gedämpft. Selbst das abermalige »Kwiuh« des Käuzchens klang anders als vorhin. Die gewohnte Welt um sie her war in die verschiedensten Grautöne gekleidet. Mehr und mehr hellten sie auf, dennoch wirkte alles seltsam entrückt. Sie verließ ein fremd aussehendes Wehlau. Die Stadt, in der sie aufgewachsen war, war für immer in der Nacht versunken. Der Tag brach an, und damit begann ein neues Leben.

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    Zweiter Teil
    Labiau und Königsberg
Sommer 1455
    swem nie von liebe leid geschach,
    dem geschach ouch liep von liebe nie.
    liep unde leit diu wâren ie
    an minnen ungescheiden.
     
    (Wem nie durch Liebe Leid geschah,
    dem geschah auch das Glück der Liebe nicht.
    Liebe und Leid waren von je
    in der Minne ungeschieden.)
     
    GOTTFRIED VON STRASSBURG
Tristan, Vers 204–207

1
    M üßiggang war Agnes fremd. Ohne Beschäftigung schienen ihr die Tage endlos, boten viel zu viel Zeit, um über die Ereignisse der letzten Wochen zu grübeln. Mit Neid sah sie, wie sehr Laurenz von seinen Arbeiten an der Ordensburg in Labiau in Anspruch genommen wurde. Beobachtete sie morgens, wie die eine Magd in der Schankstube die Suppe für das Mittagessen vorbereitete und die andere den Bierausschank übernahm, konnte sie sich kaum zurückhalten. Noch unruhiger wurde sie, wenn der Wirt seine älteste Tochter zum Einmaischen ins Hinterhaus befahl. Doch sie durfte sich nichts anmerken lassen. Bei ihrer Ankunft in Labiau vor fünf Tagen hatte Laurenz sie der Wirtin des Krugs als seine Base vorgestellt, die er zu Verwandten nach Königsberg bringen sollte. Zwar hatte die Wirtin sie daraufhin mit einem seltsamen Blick bedacht, ihr aber dennoch ein Bett im Schlafgemach ihrer Tochter bereitet. Agnes’ zaghafte Bitte, sich im Haushalt nützlich machen zu dürfen, hatte die hagere Frau schroff zurückgewiesen. »Wäre noch schöner, wenn unsere Gäste bei uns mit anpacken müssten.« Seither verbrachte Agnes die Tage damit, die Lischke und die benachbarte Ordensburg zu erkunden.
    Auch an diesem heißen Augusttag ging sie über den gut besuchten Markt. Die Erntezeit sorgte für ein reichhaltiges Angebot an Gemüse und Früchten. Das Getreide war eingebracht und wartete am nahen Hafen in großen Säcken auf den Abtransport. Die Fischer auf der Deime und dem nahen Haff schienen gute Fänge zu verbuchen. Prall gefüllte Fässer standen dicht an dicht. Hechte, Zander, Barsche, Aale und viele andere Sorten wurden darin feilgeboten. Sehnsüchtig musterte Agnes einen ellenlangen Döbel. Ein Prachtstück! Was gäbe sie darum, ihn zu kaufen und für jemanden zuzubereiten. Griet war eine gute Lehrmeisterin am Herd. Wehmut überfiel sie. Rasch ging sie

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