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Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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eine gewisse Brechung berücksichtigen.
    Bevor sie einschlief, hatte Sophie gelächelt. Dieses in Drahtglas gerahmte Lächeln war in seinem Kopf geblieben. Ärzte und Schwestern waren gekommen und gegangen wie Ebbe und Flut, und es war unmöglich gewesen, jemanden in der grün bekittelten Flut wiederzuerkennen und zu fragen: Stirbt meine Tochter oder schläft sie nur? An diesem absoluten Extrempunkt gab es nur noch Scham. Er schämte sich, weil seine Tochter so krank geworden war, ohne dass er es merkte.
    Jetzt schien es keine Verbesserung oder Verschlechterung mehr zu geben. Die Monitore blieben konstant. Jack hatte Angst, den Bann zu brechen oder die Zeit auf ihren ganz besonderen Fall aufmerksam zu machen. Er saß völlig still da. In diesem Zimmer mit den Monitoren war die Zeit ein Diamant, der von Sophies Atem geschliffen und von ihrem Pulsschlag poliert wurde. Solange diese Geräusche andauerten, blieb die Zeit kristallin.

Nationales Radsportzentrum, Stuart Street, Manchester
11.59 Uhr
    Kate bemühte sich, Zoe nicht anzuschauen, als sie sich am Start aufstellten. Zoe hatte für das erste Rennen das Los für die Innenbahn gezogen und stand daher links von Kate. Sie zwang sich, nicht an Zoes dramatische Ankunft zu denken oder was mit ihr los sein könnte. Sie klammerte sich an Jacks Stimme, wie er ihr am Telefon gesagt hatte, er liebe sie. Sie ließ die Worte in ihrem Kopf widerhallen, bis sie kein anderes Geräusch mehr hörte, bis alle Enttäuschungen schwiegen. Sie schaute geradeaus auf die Bahn, umfasste die Griffe fester, ihr Geist kam zur Ruhe.
    »Noch eine Minute«, sagte der Starter.
    Ihre Sinne waren geschärft. Sie bewegte den Lenker nach links und rechts, um die Haftung der Reifen zu testen. Die Drehkraft ließ sie auf dem Lack der Bahn quietschen. Als sie sich bewegte, rieb ihr hautenges Trikot unangenehm über das frische Tattoo auf ihrem Schulterblatt. Zorn blitzte in ihr auf. Sie spannte und entspannte nacheinander ihre Muskelgruppen, um den Zorn in Potenzial zu verwandeln. Sie bemerkte die winzigsten Einzelheiten: das ultrafeine Netz auf der Oberseite ihrer Handschuhe, die Sandelholznote im Parfum der Frau, die ihr Rad hinten am Sattel hielt.
    Als der Starter von zehn herunterzählte, gestattete sie sich den ersten Blick auf Zoe. Sie starrte unverwandt geradeaus. Kate spürte, wie Zoes Lungen sich weiteten und ihre Muskeln sich anspannten, als wären es ihre eigenen. In den letzten Sekunden vor dem Start fiel ihr Körper in den Rhythmus ihrer Rivalin.
    Als die Pfeife ertönte, stieß sich Zoe mühelos von der Linie ab, und Kate folgte ihr in zwei Metern Entfernung, bereit, die Lücke rasch zu schließen, falls Zoe anzog. Zoe fuhr langsam, sah sich um, wartete auf jede Zuckung, die Kates Angriff verraten würde. Hinter der ersten Kurve fuhren beide noch weit unten auf der Bahn, und als sich die Gerade wieder vor ihnen öffnete, lenkte Zoe nach rechts und steuerte die hohe Seite an. Kate folgte ihr, und sie blieben dort auf einer Linie, beschleunigten, um in der zweiten Kurve die Haftkraft zu nutzen. Sie hielten das Tempo auf der Zielgeraden. Nachdem sie am Ende der ersten von drei Runden die Linie überquert hatten, wurden sie allmählich schneller. Kate blieb noch in Zoes Windschatten.
    Nach der zweiten Runde fuhren sie immer noch oben auf der Bahn, wobei Kate folgte und auf Anzeichen für einen Ausbruch wartete. Als sie den Scheitelpunkt der Kurve erreichten, die auf die Zielgerade führte, wandte Zoe den Kopf und machte Anstalten, steil auf die Bahn hinabzustoßen. Kate reagierte sofort und folgte ihr, bevor sie merkte, dass es ein Trick gewesen war. Zoe blieb hoch in der Kurve, und als Kate die schwarze Messlinie erreichte, fuhr sie sofort wieder volles Tempo, so dass ihre Muskeln aufschrien. Zoe stieß hinter ihr herab und setzte sich in ihren Windschatten, als die Glocke für die letzte Runde ertönte.
    Kate erkannte sofort, was das bedeutete. Sie hatte ihren Vorteil eingebüßt und konnte nur noch aufs Ganze gehen. Taktik zählte nicht mehr – sie fuhren beide weit unten auf der Bahn, beschleunigten auf der kurzen Seite zur Höchstgeschwindigkeit, und Zoe klebte in ihrem Windschatten. Wenn sie jetzt nicht noch außergewöhnliche Kräfte freisetzen konnte, würde Zoe einfach bis zu den letzten hundert Metern hinter ihr bleiben und dann aus dem Windschatten heraus an ihr vorbeischießen.
    Nun, da sie nicht mehr nachdenken musste, war Kate ganz ruhig. Sie trieb sich ans absolute Limit,

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