Gold
Spezialbrille, Dad?«
»Wenn du einundzwanzig bist, Soph.«
»Das ist ja noch eine Ewigkeit.«
»Ja.«
Sie wartete genau sechs piepsende Herztöne lang, dann verschwand ihr Lächeln.
»Ich glaube, die Ärzte sagen dir nicht alles.«
»Weshalb sollten sie mir nicht alles sagen?«
»Weil du dann vielleicht weinst.«
Sie beobachtete Jacks Reaktion, und er bemühte sich, keine zu zeigen. Stattdessen umarmte er sie. »Es gibt nichts zu weinen. Du wirst gesund.«
Später, als sie wieder eindämmerte, rief Kate an. Jack zuckte zusammen. Der Klingelton drängte sich in den Rhythmus von Sophies Herzschlag und Atem. Er zerschmetterte die kristallene Zeit, die sich im Zimmer gebildet hatte. Die Bruchstücke zersplitterten, und an ihre Stelle trat eine neue Zeit, die mit dem altmodischen Klingelton anbrach, der von einem alten Bakelit-Apparat stammte und in der Software von Jacks Handy gespeichert war.
Er horchte mit geschlossenen Augen auf die Dissonanz. Herz, Lunge, Telefon. Es klingelte weiter und weiter, schien lauter und disharmonischer zu werden, bis ihm nichts anderes übrig blieb, als das Zimmer zu verlassen und den Anruf außer Hörweite der Überwachungsgeräte anzunehmen.
»Jack?«
Ihre Stimme klang wunderschön in der plötzlichen Stille.
»Hey, wie läuft es?«
Er konnte ihre Hochstimmung trotz der schlechten Verbindung heraushören.
»Das erste Rennen habe ich gewonnen«, sagte sie. »Heute bin ich stärker als sie. Ich glaube, ich kann sie schlagen.«
»Ich wusste es.«
»Ich auch. In fünf Minuten sind wir wieder dran. Wenn ich das nächste Rennen gewinne, war’s das. Ich muss jetzt Schluss machen, okay? Eigentlich darf ich nicht telefonieren, aber Tom hat vergessen, es mir wieder abzunehmen. Nicht anrufen, sonst klingelt es in meiner Sporttasche.«
Er lächelte. Er spürte eine Leichtigkeit in der Brust, als sein dummer Körper auf ihre Stimme reagierte. Alles schien in bester Ordnung. Die kristallene Zeit war aus Sophies Zimmer verschwunden, und eine neue Zeit umhüllte sie, strahlte aus dem warmen Glühen ihrer Stimmen, die von fern miteinander verbunden waren. Sie konnten hier, in diesem einen Moment, leben und glücklich sein. Letztlich waren dies die Augenblicke, in denen man wirklich lebte, diese verschnörkelten Windungen der Zeit. Man konnte sie ewig währen lassen oder bis man die Wahrheit sagte.
Er schaute durch das Drahtglas. Sophie schien vollkommen friedlich. Der Herzschlag lag immer noch bei 88. Der Atem bei 22. Wer konnte schon wissen, ob sie nicht einfach die Augen wieder aufmachen und lächeln und alles wieder gut werden würde?
Er bezwang den Drang, mit der Wahrheit herauszuplatzen und seiner Frau zu sagen, sie solle sofort kommen.
»Na los, sieh zu, dass du gewinnst. Viel Glück.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, kehrte er ins Zimmer zurück und setzte sich neben Sophies Bett. Er schloss die Augen und stellte sich Kate vor, die nichts im Sinn hatte als das bevorstehende Rennen. Er lächelte, weil er ihr etwas geschenkt hatte, das seltener war als Gold: eine Stunde der Zeit draußen.
Nationales Randsportzentrum, Stuart Street, Manchester
12.29 Uhr
Zoe stellte sich an der Außenseite der Bahn auf und sah zu, wie Kate links von ihr für das zweite Rennen in Position ging. Sie kannte Kates Rituale an der Startlinie auswendig: wie sie zum x-ten Mal den Reißverschluss am Hals ihres Trikots prüfte, wie sie regelmäßig mit beiden Fersen zuckte, um sich zu vergewissern, dass ihre Schuhe fest mit den Pedalen verbunden waren, wie sie lautlos die Lippen bewegte und irgendein beruhigendes Mantra sprach, mit dem sie ihren Geist ganz leer machte. Zoe sah zu, wie sie den Kopf senkte und das Bild von Sophie betrachtete, das auf dem Rahmen klebte. Wie sie unwillkürlich lächelte. Zoe hielt Ausschau nach Zeichen von Schwäche – ob sie asymmetrisch auf dem Rad saß, was auf die Entzündung einer bestimmten Muskelgruppe hingewiesen hätte, oder ob sie in irgendeiner Weise von ihrem üblichen Ritual abwich, weil sie sich um etwas Sorgen machte. Nichts. Höchstens ein ungewöhnliches Selbstvertrauen, das sich in ihrer Haltung ausdrückte, der fließenden Linie von Rücken und Schultern, die von konzentrierter Kraft zeugte.
Zoe zog die Nase hoch und schloss die Hände um die Griffe. Kates Selbstvertrauen störte sie nicht weiter. Wenn überhaupt, tat es ihr leid, dass Kates Enttäuschung über ihre Niederlage umso größer sein würde. Zoe musste gewinnen – würde gewinnen
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