Gold
hatte er ’68 die Medaille verloren. Damals hatte man noch echten Film benutzt, der durchgehend belichtet wurde, während er über einen dünnen vertikalen Schlitz lief. Die alte Maschine hatte Bilder von Zehntelsekunden geliefert. So hatte er verloren: mit einer Zehntelsekunde, einem Achtel Zoll Zeit. Das war damals das Knappste, was man messen konnte, alles andere wurde als Unentschieden gewertet. Damals räumte man der Vorstellung, dass kein Mensch das, was Gott zusammengefügt hatte, trennen sollte, einen Sekundenbruchteil ein.
Er betrachtete Zoes Gesicht. Sie wirkte absolut im Frieden mit sich, als sie die Linie überquerte, und er war stolz auf sie. Was immer auf dieser Linie geschehen sein mochte, sie hatte das Rennen ihres Lebens gewonnen. Es war ein Symptom dieser Zeit, dass die drei Funktionäre den Techniker aufforderten, eine senkrechte rote Linie durch den vordersten Punkt von Kates Vorderrad zu ziehen und das Bild heranzuzoomen. Dann deuteten sie aufgeregt auf den winzigen Streifen blassen Lichts, der zwischen der dünnen roten Linie und dem äußersten Rand von Zoes Vorderrad hindurchschimmerte.
»Scheiße«, sagte Tom leise.
Der leitende Funktionär drehte sich zu ihm um. »Gibt es ein Problem?«
Tom wollte schon etwas sagen, schüttelte dann aber den Kopf. Es war sinnlos, dem Mann zu erklären, dass es beinahe sein ganzes Leben lang keine Technologie gegeben hatte, die seine Mädchen an diesem Tag voneinander hätte trennen können. Er war fast sprachlos vor Zorn, weil man die Sekunde so weit atomisiert hatte, dass Zoe mit einem Tausendstel Abstand verlor.
»Schon gut«, sagte er schließlich.
»Tut mir leid«, erwiderte der Funktionär. »Soll ich es ihnen sagen?«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, das ist meine Sache.«
Der Weg zur Bahn war lang, und seine Knie protestierten bei jedem Schritt. Zoe und Kate standen unten an der Treppe und sahen ihm entgegen. Er bemühte sich um einen neutralen Ausdruck, und als er sie erreicht hatte, nahm er Kates Hand in seine Rechte und Zoes in seine Linke.
»Kate hat gewonnen«, erklärte er. »Mit einer Tausendstelsekunde Vorsprung.«
Er hielt ihre Hände einen Moment lang fest und ließ sie wieder los. Sie wandten sich zueinander und standen schweigend da, während sie die Information verarbeiteten.
»Ihr könnt euch das Foto ansehen.«
Zoe ließ Kate nicht aus den Augen. »Nein, nicht nötig. Gut gemacht.«
Kate hatte Tränen in den Augen. Sie schüttelte den Kopf und hielt die Hände vor den Mund. »Lass uns noch einmal fahren.«
Zoe zuckte hilflos mit den Schultern.
Kate wandte sich an Tom. »Können wir noch mal fahren? Nur das letzte Rennen.«
»Du weißt, dass es nicht geht.«
»Es tut mir leid, Zoe. Es tut mir so leid.«
Zoe reagierte nicht. Tom war besorgt, weil sie so dastand, mit herabhängenden Händen und leerem Blick.
Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Na komm, lass uns reden.«
Sie schob ihn weg. »Es gibt nichts zu reden, oder? Deshalb malen wir eine Linie auf die Bahn. Damit man weiß, wann es vorbei ist.«
Er ließ seufzend den Kopf hängen. Er musste die Kraft finden, jetzt ihr Trainer zu sein, ihr Minute für Minute die Anweisungen zu geben, die sie benötigte, um die nächste Stunde und die beschissenen Tage danach zu überstehen.
»Geh duschen. Dann ziehst du dich an und kommst in mein Büro. Einverstanden?«
Sie zog die Nase hoch und schaute auf das frische Olympia-Tattoo auf ihrem Arm. »Einverstanden«, sagte sie schließlich. Dann drehte sie sich zu Kate und legte den Kopf ein bisschen schief. »Du wirst mir fehlen.«
Kate ergriff ihre Hände. »Zoe …«
Sie umarmten einander heftig, beinahe schmerzhaft, bis Zoe sich löste und in Richtung Umkleide ging. Tom sah ihr nach, ließ sich dann auf einen Sitz fallen und deutete neben sich.
»Wie geht es dir?«
Sie sah zu Boden. »Beschissen.«
»Kann ich mir vorstellen. Du bist ein liebes Mädchen, Kate, aber sie hat dich nicht gewinnen lassen. Sie hat dich nur das Rennen zu Ende fahren lassen.«
»Ich hätte nicht aufstehen sollen. Ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie mich weitermachen lässt.«
»Warum bist du dann aufgestanden?«
Ihr Gesicht verzog sich, und ihre Stimme kam als dünnes, ersticktes Flüstern heraus. »Weil ich es so sehr wollte, Tom. Ich wollte gewinnen. Ich wollte zu Olympia.«
»Und dahin kommst du auch. Vorausgesetzt, du brichst dir nicht die Beine und es taucht in den nächsten drei Monaten keine aus dem Nichts auf, die ebenso
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