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Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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eigentlich nur in der Schlacht und niemals mit seinen Angehörigen tun sollte, aber sie war so erzürnt, dass sie nicht anders konnte. Sie hob die rechte Hand, in der lauter Schläuche steckten, die am Handgelenk festgeklebt waren, und deutete mit Daumen und Zeigefinger auf Mum und Dad. Dann verringerte sie den Abstand zwischen den Fingern und gab das Signal mit den Augen, das die MACHT aus ihren Fingern strömen ließ.
    Ihre Eltern sahen einander wieder an, Angst in den Augen. Sophie nickte zufrieden – jetzt hatte sie es ihnen gezeigt. Nacheinander legten sie die Hände an die Kehle und machten leise würgende Geräusche, als bekämen sie keine Luft.
    Als Sophie es ihnen so richtig gegeben hatte, ließ sie sie wieder los. Mum und Dad sanken keuchend auf ihren Stühlen zusammen, und als sie wieder atmen konnten, ergriffen sie erneut Sophies Hände, während die Überwachungsgeräte anzeigten, dass sich ihr Puls allmählich normalisierte.
    »Möchtest du eine gute Nachricht hören?«, fragte Mum. »Ich glaube, ich fahre zu den Olympischen Spielen.«
    Mum sah sie erwartungsvoll an. Sophie hatte nur mit einem Ohr zugehört, bemühte sich dann aber, zu verstehen, weil es Mum wichtig zu sein schien. Sie drehte und wendete die Worte und versuchte, einen Sinn darin zu erkennen, aber sie war zu erschöpft. Es gab nur die zehn rosa Zehen, die unter ihrer Decke hervorlugten. Den glänzenden blauen Linoleumboden, auf dem sie am liebsten mit Rollerskates gefahren wäre. Den hellen sauberen Geruch des Krankenhauses, wie elektrisches Spülmittel. Es war wunderschön und machte sie glücklich, doch plötzlich wurde ihr alles zu viel, und die Dunkelheit schlich sich heran und verschluckte sie und zog sie wieder in den Schlaf hinunter.

Nationales Radsportzentrum, Stuart Street, Manchester
14.05 Uhr
    Tom wartete in seinem Büro unter der Bahn auf Zoe. Sie brauchte ewig in der Dusche, doch er nahm es ihr nicht übel. Sie musste zwei Jahrzehnte Radrennen von sich spülen.
    Er rief Jack an und erfuhr, dass Sophie nach der Operation noch sehr schwach war, versuchte aber, den Gedanken vorübergehend beiseitezuschieben und sich auf die Bedürfnisse seiner Athletin zu konzentrieren.
    »Meiner Athletin«, sagte er laut, um den Klang in der toten Luft seines kleinen Büros auszuprobieren.
    Falls sie nicht auf einem niedrigeren Level mit dem Sport weitermachen wollte – und dass sie noch einmal bei der nationalen Meisterschaft oder irgendwelchen Regionalwettkämpfen antreten würde, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen –, wäre sie niemandes Athletin mehr. Was sollte er einer Frau wie Zoe sagen, wenn er nicht mehr dafür bezahlt wurde, ihr etwas zu sagen? Als Trainer war er nie um Worte verlegen gewesen. Es war ihm leichtgefallen, ihr zu helfen, wenn es um ihren Fahrstil ging oder darum, wie viel Gramm Protein sie in der Woche vor dem Rennen zu sich nehmen sollte. Im wirklichen Leben würde auch sie verlieren müssen. In einer Welt, in der Siege selten vollkommen und Niederlagen oft verhandelbar waren, würde sie hilflos sein.
    Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Er konnte sie nicht mehr so wie früher beschützen. In der Woche, die sie nach Jacks Sturz bei ihm im Krankenhaus verbracht hatte, hatte Tom sie bei sich wohnen lassen. Er hatte für sie gekocht, mit ihr über das Radfahren geredet und sie eine weitere Woche bei sich behalten und wieder aufgebaut, nachdem sie sich entschieden hatte, dass sie nicht mit Jack zusammen sein konnte. Er hatte sich so gut wie möglich um sie gekümmert, damals war eine enge Bindung zwischen ihnen entstanden.
    Doch er wusste nicht, wie er ihr jetzt helfen sollte. Er hätte ihr gern vorgeschlagen, bei ihm zu wohnen, traute sich aber nicht. Vielleicht würde sie glauben, er wäre in sie verliebt, ein einsamer alter Mann, der die Vorstellung, sich für den Rest seines Lebens täglich ohne sie zum Dienst zu melden, nicht ertragen konnte. Natürlich hatte sie recht – Frauen hatten immer recht –, aber Liebe war wohl kaum das richtige Wort. Man verlor das Recht, sich in eine Zweiunddreißigjährige zu verlieben, wenn man so leichtsinnig war, 1946 geboren zu werden. Nein, Liebe war es nicht. Nur kam er sich beim Gedanken an die endlosen Tage ohne sie vor wie ein Seelöwe im Zoo, der aufs Podest steigt und mit den Flossen klatscht, um Applaus zu bekommen. Aber viele Leute kamen mit so etwas zurecht. Vielleicht würde es auch ihm mit einem bisschen Übung und einem gelegentlichen Glas

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