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Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Stille im Raum brachte ihn aus der Fassung. Die Überwachungsgeräte waren auf stumm geschaltet. Er stellte die Frage mit den Augen, doch Sophies Atem war so flach, dass ihre Brust ihm keine Antwort gab. Wenn sie sich hob und senkte, diente sie ihm als Anker, doch ohne diese Bewegung war dies ein Raum außerhalb der Zeit. Er hielt ihre Hand. Durch die Glasscheibe in der Tür konnte er Leute durch den Flur gehen sehen, die zur Schicht kamen, Patienten besuchten, sich in einem natürlichen Rhythmus bewegten.
    »Sophie?«, flüsterte Jack.
    Er streichelte ihr Gesicht. Es war so still, dass es über eine reine Reglosigkeit hinausging. Das machte ihm mehr Angst als alles andere. Dieser Mensch sah aus wie Sophie, doch die Narkose hatte selbst das Echo ihres Charakters, das noch im Schlaf in ihrem Gesicht zu erkennen war, verklingen lassen. Dies waren Sophies Gesichtszüge, deren oberflächliche Merkmale naturgetreu wiedergegeben waren, aber ohne ihren lebhaften Geist. Sehr lebensecht war der Satz, der ihm in den Sinn kam. Er versuchte, ihn ungedacht zu machen, aber das war nicht möglich.
    Die Luftfeuchtigkeit wurde reguliert, und die Temperatur lag konstant bei 19,5 °C. Es war recycelte Luft, die aus den aufgerissenen Mäulern der Edelstahlröhren drang und nach den Tragödien anderer Menschen roch. Jack schloss die Augen und betete .
    Nimm sie uns bitte nicht weg , sagte er.
    Er wartete. Und als weder in seinem Innern noch in dem neutralen Druck von Sophies Hand an seiner eine Antwort wuchs und Sophies Gesichtszüge so still waren wie ein Gezeitentümpel, aus dem sich das Meer zurückgezogen hat, schwor er: Wenn du Sophie am Leben lässt, werde ich von jetzt an für sie leben. Ich werde mein Rad an den Nagel hängen. Ihr Leben wird mein einziges Gold sein.
    Das war die Abmachung, die Jack dem Universum anbot. Er war zweiunddreißig. In diesem kleinen Zimmer, mit Sophies Hand in seiner, begriff er, dass dieser Augenblick ihn von Beginn an begleitet hatte. Er war bei ihm gewesen, als er in Boxershorts dagestanden hatte, während ihn der Schneider für die Olympischen Spiele in Athen ausstattete, und hatte leise an ihm genagt, während sie Smalltalk machten. Er war, schon deutlicher umrissen, da gewesen, als er in dem Hotel in Peking den Kopf in den Händen vergraben hatte.
    Dieses Zimmer war immer in ihm gegenwärtig gewesen.
    Er öffnete die Augen und hoffte auf eine Bewegung, doch Sophie lag vollkommen still da.

Nationales Radsportzentrum, Stuart Street, Manchester
13.17 Uhr
    Tom ging mit den drei Funktionären in den Kontrollraum, um sich die Aufnahmen der Zielkamera anzuschauen. Sie drängten sich um den Monitor, während der Techniker das Bild hochlud. Tom war noch nicht bereit dafür. Er setzte sich ans andere Ende des kleinen Raums und schaute durch die deckenhohen Fenster aus Sicherheitsglas auf die Bahn hinunter. Das Flutlicht war ausgeschaltet. Zoe und Kate hatten Schuhe und Strümpfe ausgezogen und gingen Arm in Arm über die dämmrige Bahn. Dann blickten sie zum Kontrollraum hoch. Er winkte ihnen, doch sie konnten ihn von außen nicht sehen. Er rief Jack an, erreichte aber nur die Mailbox. Er wollte gerade eine Nachricht hinterlassen, und in diesem Moment rief der Techniker, das Bild sei fertig. Tom stand auf, ging die fünf Schritte bis zum Monitor und zwang sich hinzuschauen.
    Die Kamera hatte die Ziellinie zehntausend Mal pro Sekunde aufgenommen und in zehntausend mikroskopisch dünne Linien geteilt. Die Software hatte diese Linien nebeneinander von links nach rechts in der Reihenfolge der Aufnahmen angeordnet. Tom schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. Man musste bedenken, dass man das genaue Gegenteil eines normalen Fotos betrachtete, bei dem der Raum in der Zeit eingefroren war. Dies hier war ein Bild von Sekundenbruchteilen, mit dem nur Fachleute arbeiteten. Es zeigte die Zeit, die im Raum eingefroren war, und verzerrte die Körper der beiden Sportlerinnen, die er so gut kannte, auf bizarre Weise. Was relativ unbeweglich war, ließ sich gut vom Raum in die Zeit übersetzen, wodurch Arme und Gesichter naturgetreu wiedergegeben, die Beine jedoch am höchsten Punkt der Trittbewegung, an dem sie schneller waren als das Rad, in die Länge gezogen und am tiefsten Punkt zusammengedrückt wurden. Die Räder waren perfekte Kreise, doch die Speichen beschrieben von der Nabe bis zur Felge eine unheimliche Parabel.
    Tom fand es gruselig, seine Mädchen derart in der Zeit verwischt zu sehen. So

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