Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
Vom Netzwerk:
Hatte ihr Handgelenk nicht unter seiner Hand herausgezogen. Ihr Leben war voller Menschen, die wussten, wer sie war, die Trainingspläne für sie aufstellten und tagein, tagaus ihren Puls maßen. Sie maßen auch ihre maximale Herzfrequenz, ihre Herzfrequenz an der Laktatschwelle und bei optimaler Kraftleistung. Es hatte gutgetan, still neben diesem Mann zu liegen, der sich wenigstens ein bisschen dafür zu interessieren schien, was ihr Herz im Ruhezustand tat.
    Im schwachen Dämmerlicht zog Zoe dem Arzt die Decke um die Schultern und ließ ihn weiterschlafen.
    Im Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher ein und stellte beim Nachrichtensender den Ton ab, bevor sie zweihundert Sit-ups, achtzig Unterarmstütze und sechzig seitliche Rotationen mit einem Medizinball absolvierte. Danach dehnte sie sich und ging unter die Dusche, wobei sie ihren verletzten Arm in die Höhe hielt, um den Verband zu schützen. Sie rubbelte ihre Haare trocken und machte sich einen Espresso. Sie trank ihn vor den deckenhohen Fenstern und sah zu, wie die Sonne über der von Menschenhand erschaffenen Wucherung namens Manchester aufging. Das helle Licht verschmolz mit dem Glühen in ihrer Brust, das sie nach den Übungen spürte, und sie fühlte sich schwerelos. Alles schien einfach. Zum ersten Mal, seit sie hier eingezogen war, fühlte sie sich wohl.
    Sie wippte lächelnd auf den Fußballen.
    Dies waren Augenblicke des Glücks; man musste sie ergreifen. Man musste die Minuten der Stille auskosten, in denen die Erinnerung gnädig und die Oberfläche des Lebens so spiegelglatt war wie das windstille Meer. Fast ließ sich glauben, man sei so schnell gelaufen, dass man der Vergangenheit entkommen war. Dieses Gefühl war von Vergebung nicht zu unterscheiden.
    Türme bohrten sich in den Himmel, Glas schimmerte, bunt gestrichene Gasometer glänzten im neuen Licht.
    Zoe stellte sich auf die Zehenspitzen und stützte sich mit einer Hand an der Scheibe ab. Dann ließ sie sich langsam wieder auf die Fersen sinken, ihr Gesicht ohne jede Regung. Zu begreifen, dass sie glücklich war, hatte schon ausgereicht, um den Augenblick zu zerstören. Früher oder später würde der Assistenzarzt mit dem Aufzug nach unten fahren und in den Kleidern von gestern auf die Straße treten, wo ihn die Reklametafel mit ihrem Gesicht erwartete. Sobald er wusste, wer sie war, würde alles zerfallen, so wie immer.
    Sie machte sich noch einen Espresso, wobei ihre Hand ein wenig zitterte, und schaute ihm wieder beim Schlafen zu. Er hatte die Decke abgeschüttelt, sein schlanker Rücken schimmerte im Licht der aufgehenden Sonne. Sie dachte daran, wie er in der Dunkelheit zusammengebogen dagelegen hatte, und an das Gefühl der Komplizenschaft.
    Sie setzte sich aufs Bett, den Rücken ans Kopfende gelehnt, die Knie an die Brust gezogen, und wartete darauf, dass er aufwachte. Sie war unruhig und überlegte, ob sie bleiben oder laufen gehen sollte. Wenn sie das tat, würde sie sich die ganze Zeit fragen, ob er noch da wäre, wenn sie zurückkam. Sie drückte einen Knopf, worauf am Fußende des Bettes lautlos ein Fernseher auftauchte. Sie schaltete das Morgenmagazin ein, stellte den Ton aus und die Videotext-Untertitel ein. Piraten hatten einen Frachter vor der somalischen Küste entführt. Arsenal hatte eine böse Niederlage erlitten. In einem nahe gelegenen Sonnensystem hatte man einen Planeten entdeckt, der in etwa die richtige Entfernung von seiner Sonne besaß, um theoretisch Leben zu ermöglichen. Die Nachrichtensprecherin verlas das alles ohne hierarchische Ordnung.
    Ihr Handy meldete eine SMS. Sie zuckte zusammen, und der Mann wachte auf. Er setzte sich hin und schaute sie blinzelnd an. Dann lächelte er.
    »Hi«, sagte er.
    »Hi. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.«
    »Kein Problem.«
    Er berührte ihre Hüfte. Sie zögerte. Der Morgen hatte ihm das gute Aussehen nicht gestohlen.
    Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Die Nachricht war von Tom, er bat sie, sich nach dem Nachmittagstraining noch eine Stunde Zeit zu nehmen.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ja. Nur das Büro.«
    »Wann fängst du an?«
    »Ach … weißt du, heute arbeite ich von zu Hause aus.«
    »Soll ich dich in Frieden lassen?«
    Zoe lächelte. »Nein.«
    Sie legten sich auf die Bettdecke, und ihre Körper wurden vom stummen Fernseher beleuchtet, während die Untertitel aufblitzten. Laut offiziellen Aussagen hat es in der pakistanischen Unruheregion Nord-Waziristan weitere Proteste gegeben . Er küsste ihren Körper.

Weitere Kostenlose Bücher