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Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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dem Augenblick, in dem sie die Ziellinie überquerten, würden sie wieder zu menschlichen Wesen wie die anderen auch.
    Tom zögerte. Er hielt die Pfeife bereit, brachte es aber nicht über sich, hineinzublasen.
    Dann schoss Kate aus der Kurve auf ihn zu und hielt neben ihm an. Sie nahm den Helm ab und strahlte, ihre dunkelblauen Augen funkelten, die Wangen waren rosig vom Aufwärmen, und Tom spürte, wie er dahinschmolz. Er sah sie stirnrunzelnd an.
    »Was? Solltest du nicht in der Schule sein?«
    Sie zeigte ihm den Mittelfinger. »Können wir jetzt endlich das Rennen fahren?«
    Er lachte. Plötzlich waren ihr Zögern und ihre Unsicherheit verschwunden. Auf dem Rad war sie ein völlig anderes Mädchen. Genau darum ging es auf der Bahn – man fuhr immer auch gegen sich selbst. Und konnte zumindest eine Zeitlang gewinnen.
    »Rennen? Ach, darum seid ihr also hier.«
    Er blies in die Trillerpfeife und rief die Fahrer zu sich.
    Tom hob den Kopf vom Tisch und las noch einmal die E-Mail.
    Du musst vor der Ankündigung des IOC mit Zoe und Kate sprechen.
    Es hatte keinen Sinn zu jammern. Er musste handeln, durfte sich nicht davor drücken. Die Wahrheit war, dass man ab dem Augenblick, in dem man in die Trillerpfeife blies, mit diesen herzzerreißenden Entscheidungen rechnen musste.

Beetham Tower, 301 Deansgate, Manchester
    Zoe erwachte auf dem dunklen Laken ihres Bettes, als das erste blasse Aprillicht über sie hinwegspülte. So war es immer. Beim kleinsten Anzeichen der Dämmerung sprangen ihre Augen auf, und das Adrenalin schoss durch ihren Körper. Sich nicht zu bewegen war unmöglich. Man konnte seinen Körper nicht bis zum Äußersten trainieren und dann von ihm verlangen, still zu liegen, so schön es auch gewesen wäre.
    Neben ihr lag der Assistenzarzt, der sie gestern Abend in der Notaufnahme untersucht hatte. Er hatte sich davon überzeugt, dass nichts gebrochen war, und ihr, da sein Dienst um acht Uhr endete, angeboten, sie nach Hause zu bringen. Sie hatte ihm im Gegenzug irgendeinen Euphemismus, vermutlich Kaffee, angeboten – sie konnte sich nicht genau erinnern.
    Im Schlaf war er ganz an den Rand des Bettes gerutscht, lag auf der Seite, gebogen wie eine Klammer. Sie streichelte seine Wange, doch er reagierte nicht – Tiefschlaf. Sie fuhr sanft mit den Fingern über die weiche Haut an seiner Schulter. Seine Reglosigkeit rührte sie.
    Zusammen zu schlafen hatte seine eigene Sprache, und die meisten Männer brüllten. Selbst gute Liebhaber wurden im Schlaf lästig; sie zappelten, machten sich breit, klammerten sich an einen. Als müsste man festgehalten werden. Als könnten sie nicht fassen, dass man es zweiunddreißig Jahre lang ohne einen Fremden als Anker geschafft hatte, nicht aus dem Bett zu fallen und sich dabei tödliche Verletzungen zuzuziehen.
    Zoe streichelte wieder seine Wange. Er machte die Augen auf. Sie waren hellgrün, etwas regte sich in ihr. Er schaute sie einen Moment ausdruckslos an und schloss die Augen wieder, ohne aufzuwachen. Sie hatte gehört, dass Assistenzärzte hundert Stunden pro Woche arbeiteten.
    Im Schlaf sah er richtig jung aus. Zoe mochte es, wie er dalag, ganz für sich. Es war ihr nicht in erster Linie um Sex gegangen, sie wollte diesen Raum, sechsundvierzig Stockwerke hoch in den Wolken, mit einem menschlichen Wesen teilen. Sex war wie billiges Geld, das man nach Bedarf druckte und ausgab, um sich bis zum nächsten Morgen von der Einsamkeit freizukaufen.
    Danach war der Mann erschöpft zusammengebrochen. Und er hatte etwas Nettes gesagt, über das sie lächeln musste: »Meiner ärztlichen Meinung nach ist mit dir alles in Ordnung, Zoe.«
    »Vielleicht brauche ich eine zweite Meinung.«
    »Vielleicht brauche ich ein bisschen Schlaf.«
    Sie hatte gelacht, und dann hatten sie still in der Dunkelheit dagelegen. Sie hatte seinen Herzschlag gespürt und er den ihren. Er hatte besorgt nach ihrem Handgelenk gegriffen.
    »Ich will dich ja nicht beunruhigen, aber …«
    Sie hatte sein Haar zerzaust. »Ich weiß, ich habe einen Puls von neununddreißig. Das ist in Ordnung. Ich liege nicht im Sterben. Ich bin Superwoman.«
    Er hatte schläfrig gelächelt. »Und worin bestehen deine Superkräfte?«
    »Ach, weißt du, ich halte mich einfach gerne fit.«
    Er hatte nicht gewusst, wer sie war, und sie hatte es ihm nicht gesagt. Es war einfacher so. Sie hatte ihn geküsst, und er war eingeschlafen, die Hand noch ganz sanft an ihrem Gelenk. Sie hatte dagelegen und auf seinen Atem gehorcht.

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