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Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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man nur eine verschwommene Gestalt im winzigen Kleidchen. Mit zwei Jahren rannte sie mit zur Seite gestreckten Ellbogen, damit die anderen Kinder sie nicht überholten.
    Bis sie zehn Jahre alt war, versorgte ihre Mutter sie mit gebrauchten Fahrrädern. Dann, am Morgen ihres Geburtstags, stürmte sie nach unten, wo ihr erstes nagelneues Fahrrad auf sie wartete. Es war in Geschenkpapier mit zwei verschiedenen Motiven eingewickelt, das eine kanarienvogelgelb, das andere mit roten Sternen. Eine Rolle Papier hatte nicht ausgereicht. Das Fahrrad war rosa mit weißen Reifen, glitzernden Wimpeln am Lenker und einem Körbchen für ihre Puppe. Sie liebte ihre Puppe nicht, jedenfalls nicht genug, um sie mitzunehmen. Also schraubte sie das Körbchen ab, um das Fahrrad leichter zu machen. Sie löste die Schrauben mit der Spitze eines Gemüseschälers und klaubte sie mit den Fingernägeln heraus. Die Glitzerwimpel am Lenker schnitt sie mit der Friseurschere ihrer Mutter ab. Sie wusste, dass Jungs schneller fuhren, vielleicht lag es ja an dem Glitzerzeug. Sie ließ es einfach auf dem Küchenboden liegen, wohl wissend, dass sie deswegen später Ärger bekommen würde. Aber wen kümmerte es, was später war? Sie rief ihren Bruder Adam herunter und forderte ihn zu einem Rennen auf.
    Adam war siebeneinhalb und viel kleiner als sie. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, wenn ihre Mutter ihre Größe am Türrahmen markierte, und trotzdem befand sich sein Strich einen Kopf unter Zoes. Sie hatten das gleiche Haar, ein glänzendes Blauschwarz. Ihre Mutter schnitt es ihnen, während sie auf einem dreibeinigen Hocker in der Küche saßen, mit den Beinen strampelten und die Hitparade auf BBC Radio 1 hörten. Debbie Gibson und Fine Young Cannibals. Es war egal, ob man Sohn oder Tochter war: Man bekam den Haarschnitt, den Luke Skywalker im ersten Stars Wars -Film getragen hatte, in dem er durch die Galaxis reiste und leider niemandem begegnete, der ihn beiseite genommen und gesagt hätte: Hör mal, Luke, entweder trägst du sie richtig lang und flott, oder du lässt sie anständig schneiden, damit man deine hübschen Wangenknochen sieht. Zoe wollte ein Junge sein, und es nervte sie, dass Luke so blöd aussah. Doch ihre Mutter wollte ihr die Haare nicht kürzer schneiden, also musste sie sich auf Skywalkers Frisur einlassen. Lieber Luke als Leia.
    Sie teilten sich ein Bett in einem kleinen Zimmer oben unter dem Dach, und wenn ihre Mutter morgens die Leiter heraufstieg, um sie zu wecken, waren sie ineinander verschlungen, mit vom Schlaf verquollenen Augen, oder hellwach und stritten über die Einzelheiten eines gemeinsamen Traums. Ihre Mutter kleidete sie auch mehr oder weniger gleich, klemmte Zoe aber Spangen mit Schmetterlingen ins Haar. Manchmal konnte Zoe Adam überreden, dass er die Spangen trug, wenn sie im Gegenzug die Verantwortung dafür übernahm, dass er ins Bett gepinkelt hatte. Adam hatte nicht nur die gleichen Haare wie sie, sondern auch die gleichen jadegrünen Augen und das gleiche Talent, nicht mehr im Zimmer zu sein, wenn die Erwachsenen zu Ende gesprochen hatten. Sie hatten gelernt, wie man schnell lebte und sich ebenso schnell davonmachte, wenn Ärger drohte. Daher rief sie natürlich nach Adam, als sie ihr neues Fahrrad am Black Hill ausprobieren wollte. Der Glitzer vom Lenker lag noch auf dem Küchenboden, zusammen mit den pechschwarzen Haaren, die ihre Mutter für die Geburtstagsfrisur abgeschnitten hatte. Eigentlich sollte sie sie aufkehren, doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Im Alter von zehn brauchte man für solche Aufgaben zweihundert Jahre.
    Sie lebten in einem kleinen Bauernhaus mit eigenem Feld, das am Ende einer langen Straße lag. Ihr Vater hatte sie verlassen, als Zoe vier gewesen war, und ihre Mutter musste die ganze Arbeit erledigen. Neben Zoe und Adam gab es vier Dutzend Hennen und neun Schafe. Die Schafe hatten vier Hörner und teuflische Augen – sie sahen aus wie Luzifer im Wollpulli.
    Auf der Landstraße waren nur wenige Autos unterwegs. Daher fuhren sie mit den Rädern überallhin, wo sie wollten. Black Hill war der nächst gelegene Berg. Er war siebzig Meter hoch, die Grenze dessen, was ein Mensch ohne Sauerstoffgerät bewältigen konnte. Wenn man sich auf den Kopf stellte und in eine bestimmte Richtung sah, konnte man vom Gipfel aus die Erdkrümmung erkennen.
    An ihrem Geburtstag war es heiß. Es war die prallste Zeit des Sommers, in der man die Pflanzen förmlich wachsen zu sehen glaubte –

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