Goldbrokat
Haare gewickelt«, erklärte die Tsun Mou neben ihm leise. »Sie bringen sie in die Seidenhäuser zurück, damit der Segen der Göttin mit ihnen Einzug hält und der weiße Tiger keine Macht über die Raupen bekommt.«
»Der weiße Tiger?«
»Krankheiten, Ungeziefer, Fäulnis, Schädlinge.«
»Das mag helfen, aber desgleichen hilft Eure Reinlichkeit, den weißen Tiger fernzuhalten. Ihr geht sehr sorgsam mit Euren Schützlingen um.«
»Ja, baixi long , wir tun alles, sie am Leben zu erhalten.«
»Um sie dann zu töten und ihnen das Kleid zu nehmen.«
»Verurteilt Ihr es?«
»Nein.«
»Ihr seid ein Fremder, doch Ihr habt Achtung. Ihr habt die Raupen mit uns gefüttert, Ihr habt die Seide gehaspelt. Nun ja,
nicht eben meisterhaft, aber mit Geduld. Ich will Euch die Geschichte der Göttin erzählen.«
»Ihr ehrt mich, Tsun Mou .«
»So hört denn. Hang Di, der erste Kaiser unseres Volkes, hat den Menschen große Wohltaten erwiesen. Er schenkte uns die Medizin, das Wissen um die Lebensströme im Körper und in der Natur. Er brachte dem Volk bei,Werkzeuge aus Metall, Holz und Ton herzustellen, lehrte sie Schiffe und Fahrzeuge zu bauen und begründete die Astronomie. Auch die Kampfkunst lehrte er. Aber sein Weib, Xiling Shi, war ebenso klug wie er. Als der Kaiser eines Tages entdeckte, dass die Maulbeerbäume in seinem Garten einzugehen drohten, bat er sie, die Ursache herauszufinden. Sie bemerkte kleine, gelbliche Eier in dem Geäst der Bäume und beobachtete dreißig Tage lang, wie die Raupen schlüpften, fraßen, sich häuteten und schließlich den feinen, langen Faden um sich spannen. Sie las einige der Kokons auf, und als ihr einer davon aus Versehen in eine Tasse mit kochend heißem Tee fiel, entdeckte sie, dass man den Faden abwickeln konnte. Sie wickelte ihn auf ein Knäuel und beschloss, einen Stoff daraus zu weben. Er gefiel dem Kaiser, und so begründete sie die Seidenzucht.«
»Eine kaiserliche Göttin, eine kluge Frau, Tsun Mou .«
Die Raupenmutter verneigte sich und folgte den Frauen, die ihre Gebete beendet hatten.
Er blieb noch eine Weile im Tempel sitzen.
Auch er hatte die Seide zu schätzen gelernt. Wenn er nicht im europäischen Settlement zu tun hatte, pflegte er chinesische Kleidung zu tragen. Unauffällige kurze Qipaos, ohne Stickereien, aber aus bester Seide gewebt, genau wie die weiten Hosen. Wenn es kalt war, zog er eine mit Flockseide gefütterte Steppjacke darüber. Er fand diese Kleider so sehr viel angenehmer als die steifen Kragen, Westen, Hemden, Gehröcke und Stiefel. Mit seinen Fingern fuhr er jetzt über den glatten Ärmel seines grauen Gewands.
Die Seidenraupengöttin schien ihn anzulächeln.
Wie weiblich, wie überaus weiblich Seide war. Sie war die Quintessenz des Weiblichen. Nur Frauen kümmerten sich um die Herstellung. Im Frühjahr trugen Frauen die Eier des Seidenspinners in Leinenbeuteln unter ihren Gewändern, sie nahmen sie nachts mit in ihre Betten, um die Raupen mit ihrer Körperwärme zum Schlüpfen zu veranlassen. Sie hüteten die Seidenwürmer in ihren Behausungen, die niemand außer ihnen betreten durfte. Sie fegten und reinigten, sie fütterten sie und sie setzten sie auf Reisighürden, damit sie sich verpuppen konnten. Sie töteten die Puppen und haspelten die Fäden, sie wuschen die Seide aus und wickelten sie zu Strängen auf. Frauen webten, nähten, bestickten Seide. Frauen trugen seidene Kleider.
Er schloss die Augen. Was für ein wunderbares Geräusch, das Rascheln eines Taftkleids, wenn ein Weib sich leise näherte. Noch schöner aber war die glatte Seide eines dünnen Hemds auf warmer, weicher Haut. Wenn sie sich um geschmeidige Gliedmaßen legte, wenn man mit der Hand durch den feinen Stoff die Rundung der Hüfte spürte, die kleine Wölbung eines straffen Bauchs, die schmiegsame Schwere einer Handvoll Brust.
Reiß dich zusammen, befahl er sich und schüttelte den Kopf. Und mit einem Seufzen gestand er sich ein, dass die einhundertundacht Glockenschläge des Klosters lediglich einhundertundsieben Leidenschaften besiegt hatten.
Eine war noch immer gegenwärtig.
Sie galt es endlich zu bezwingen.
Den Drachen zu bezwingen, wie der Abt ihm geraten hatte.
Der Sieg über den roten Drachen der Luft würde er wohl nicht anerkennen, dachte er mit resignierter Belustigung und beschloss, noch einmal den Kalten Berg aufzusuchen.
Am nächsten Morgen, bevor der Tau fiel, wanderte er durch die Maulbeerhaine. Die Arbeiter, mit denen er im vergangenen
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