Goldbrokat
größter Strafen die Silver Cloud , um auf ein nachfolgendes Schiff zu warten, das ihnen gastfreundlicher gesinnt war. Kapitän Lambert ließ die Beschimpfungen an sich abperlen, nahm Post und Proviant auf und gab die freien Kabinen einer englischen Kaufmannsfamilie, die offensichtlich in einem tiefen Schmerz befangen war. Mrs. Rodgers war in Trauer, und auch ihr Mann wirkte bedrückt und erschüttert. Bei ihnen war ein Kindermädchen, das einen etwa zwölfjährigen Jungen am Gängelband führte. Der Sohn war ganz eindeutig geistig zurückgeblieben und verließ für die Dauer der Reise die Kabine nicht. Auch die Eltern blieben überwiegend für sich. Nur die junge Nanny suchte nachmittags Entspannung auf Deck. Meist schaute sie in das schäumende Wasser, das der Klipper durchpflügte, oder beobachtete die halsbrecherischen Kunststücke der Matrosen in den Wanten. Es war George Liu, der sich den Mut nahm, sie anzusprechen, und offensichtlich war die junge Dame nicht abgeneigt, ein paar Stunden mit Brettspielen in der Messe zu verbringen.
Drago verfolgte die Freundschaft zwischen seinem Neffen und Lucy Foster ohne große Bedenken. Georges Gespür für gutes Benehmen würde ihn schon daran hindern, in Schwierigkeiten zu geraten. Und wenn doch – na, dann hätte er eben ein gebrochenes Herz. Das heilte, wie man wusste, recht schnell.
Die Wunde aber, die vor allem Mrs. Rodgers’ Herz empfangen hatte, war noch weit entfernt davon, sich zu schließen. George, der von Lucy die Hintergründe erfahren hatte, wusste ihm tatsächlich eine herzzerreißende Begründung ihrer Trauer zu liefern. Die Rodgers hatten kurz hintereinander zwei Kinder verloren. Zuerst das acht Jahre alte Mädchen, das an Diphtherie erkrankt war und nicht mehr gerettet werden konnte, dann der zwei Jahre jüngere Bruder, der von einem wilden Hund gebissen
worden war und unter schrecklichsten Qualen an der Tollwut starb. Der älteste Sohn war schon behindert zur Welt gekommen, die beiden anderen Kinder aber waren ganz besonders goldige Sonnenscheinchen gewesen, wie Lucy sie bezeichnete. Auch sie war zutiefst traurig über das Schicksal der Familie.
Auf Grund dieser Geschichte verbrachte Drago einen sehr nachdenklichen Abend, als sie den Äquator überquerten. Aus Rücksichtnahme auf die Passagiere strich Kapitän Lambert die fällige Äquatortaufe, und so konnte er ungestört den prachtvollen Sternenhimmel des Südens betrachten. Bisher hatte ihn gedanklich die Möglichkeit von Krankheit und Unfall noch nicht berührt. Jetzt aber musste er seiner Phantasie einige Zügel anlegen, um sich nicht auszumalen, welchen Bedrohungen seine Kinder ausgesetzt waren. Ja, es wurde wirklich Zeit, dass er sich Klarheit verschaffte. Was mochten Anlagen, Erziehung und Umgebung aus seiner Brut gemacht haben?
Noch gut ein Monat, dann würde er deutschen Boden betreten. Und am selben Tag würde er nach Braunschweig aufbrechen, um die Suche nach seiner ungetreuen Gattin aufzunehmen.
Vorsichtige Verlobung
EURYDICE:
Ach, mein Gatte – den hatte ich vergessen!
Jacques Offenbach, Orpheus in der Unterwelt
Die Welt hatte in ihrem Lauf nicht innegehalten, während ich mich mit meiner bösen Frühlingsgrippe herumgeschlagen hatte. Nur wenige Meilen weiter südlich von Köln hatte wieder einmal ein entsetzliches Unwetter zugeschlagen und vierzig Menschenleben gefordert. Der Rhein führte ein gewaltiges Hochwasser, das ebenfalls etliche Schäden verursachte, und der Konflikt zwischen Napoleon dem Dritten und Österreich spitzte sich weiter zu.
Der Juni war demzufolge ein bewegter Monat, und auch mich hatte er dazu gebracht, eine grundlegende Entscheidung zu überdenken.
Zwei Wochen hatte ich hoch gefiebert, und noch immer verspürte ich tiefe Dankbarkeit meinen Freunden gegenüber, die mich aufopfernd gepflegt hatten. Leander und Viola waren eine Woche länger geblieben als geplant, um sicher zu sein, dass meine Genesung Fortschritte machte. Danach waren Nona und LouLou immer noch jeden Tag gekommen, um mich mit Essen zu versorgen und meine Kundinnen zu vertrösten.
Dabei war ich einem bisher ungeklärten Umstand auf den Grund gekommen. Es passierte an einem Nachmittag Mitte Mai, als ich mich erschöpft von einigen einfachen Tätigkeiten zu einem Mittagsschlaf ins Bett gelegt hatte. Ich wachte auf, weil mich ein Sonnenstrahl kitzelte, und als ich die Lider hob, sah ich LouLou an meinem Bett sitzen und die Daguerrotypie in der
Hand halten. Ihre Miene war unergründlich,
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