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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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fürchte ich – einfach in Vergessenheit.«
    »Ich verstehe. Nach der Papierlage lebt er noch, damit wären Sie also noch gebunden. Nun, das müsste zu klären sein, meine Liebe. Aber ein wenig nachlässig haben Sie doch gehandelt, beispielsweise in Hinblick auf die Kinder und ihr mögliches Erbe.«
    Ich gab mich zerknirscht und murmelte: »Ich habe bereits entsprechende Schritte eingeleitet, um über das chinesische Handelshaus eine beglaubigte Unterlage zu erhalten, nur das dauert seine Zeit.«
    Gernot sah mich mit einem kleinen Aufleuchten in den Augen an und deckte seine Hand über die meine.

    »Sollte ich diese Maßnahme als eine Zustimmung zu meinem Wunsch werten dürfen, Liebste?«
    Sollte er das?
    Musste ich jetzt springen?
    Nicken oder zögern?
    Mir wurde schlagartig klar, dass ich in Sachen Entscheidungen ganz großartig die Kunst des Verschiebens beherrschte.
    Schließlich aber gab ich mir einen Ruck.

Erfolg am seidenen Faden
    Da streiten sich die Leut herum
Oft um den Wert des Glücks,
Der eine heißt den andern dumm,
Am End weiß keiner nix.
Da ist der allerärmste Mann
Dem andern viel zu reich.
Das Schicksal setzt den Hobel an
Und hobelt s’ beide gleich.
     
    Ferdinand Raimund, Lied
    Guillaume de Charnay arbeitete bis an die Grenze der Erschöpfung. Tagaus, tagein machte er seine Runde durch die Brut- und Raupenhäuser und sammelte eigenhändig die erkrankten Raupen aus den Borden. Es war diesmal keine selbst auferlegte Bestrafung, die ihn zu dieser verzweifelten Maßnahme greifen ließ, sondern die Tatsache, dass sich die Seuche unerklärlicherweise auch auf sein Gut ausgedehnt hatte. Warum das so war, entzog sich seiner Kenntnis. Hatte er doch die Schuppen der aufgekauften Ländereien eigenhändig im Herbst zuvor abgebrannt und an anderer Stelle neu aufgebaut. Seine eigene Seidensaat war frei von der Krankheit, dafür hatte er ebenfalls gesorgt. Und dennoch fand er immer mehr Raupen, die aus dem ersten Schlaf der Häutung nicht wieder erwachten oder die, wenn sie erwachten, die bedrohlichen braunen Flecken aufwiesen. Seine Vermutung ging zunächst in Richtung Sabotage. Hatte einer der neiderfüllten Seidenbauern ihm heimlich verseuchte Eier untergeschoben?
    Möglich wäre es, andererseits wusste nach seinem Kenntnisstand
nur er um diese Zusammenhänge. Außerdem wurden seine Bruthäuser Tag und Nacht bewacht.
    Also sammelte er die befallenen Tiere in Eimern und verbrannte sie. Dabei hielt er ein kritisches Auge auf die gesunden Raupen und versuchte abzuschätzen, wie sich das Ausdünnen der Larven auf seine Produktionsmenge auswirken würde.
    Das Ergebnis wurde von Tag zu Tag desaströser.
    Als die Zeit der Verpuppung kam, bildeten sich nicht einmal so viele Kokons wie im Jahr zuvor, als sein Gut nur halb so groß gewesen war. Seine Berechnung, mit der verdoppelten Menge an Seide die Hypothekenschulden zügig zurückzahlen zu können, musste dringend revidiert werden.
    An diesem warmen Juniabend saß er in seinem Kontor und stellte immer neue Zahlenkolonnen auf. Dabei zuckte seine gesamte linke Gesichtshälfte beständig, sodass er zeitweise nicht in der Lage war, die Zahlen zu erkennen. Ungehalten stand er auf, um in dem mit Aktenregalen vollgestellten Raum auf und ab zu gehen. Seine Nerven befanden sich in Aufruhr. Die Ergebnisse seiner neuesten Kalkulationen verrieten ihm, dass er vermutlich noch nicht einmal die Zinsen seiner Schulden würde begleichen können, bliebe er bei den Vorjahrespreisen für seine Rohseide. Wie viel an Steigerung aber der Markt hergeben würde, war noch nicht abzusehen.
    Er musste neue Szenarien durchdenken. Was, wenn er zehn, fünfundzwanzig, vielleicht sogar fünfzig Prozent mehr verlangte?
    Wieder setzte er sich nieder und stellte Berechnungen an.
    Bei einer Erhöhung um fünfzig Prozent würde er – vorausgesetzt, wenigstens die jetzige Menge an gesunden Kokons ergäbe Seide erster Güte – einigermaßen seine Verpflichtungen decken können.
    Das aber hatte zur Folge, dass er sich auf langwierige Verhandlungen vorbereiten musste. Sein Hauptkunde, Gernot Wever, würde nicht kampflos den hohen Preis zahlen, und es gab natürlich noch immer andere Anbieter. Wenn auch die Geschäftsbeziehung
zwischen ihnen auf langjähriger Gepflogenheit beruhte und daher bequem für beide Seiten war, würde der Fabrikant sicher weitere Angebote einholen, wenn seine Schmerzgrenze bei den Preisen überschritten wurde. Und wer sagte ihm, dass nicht ein italienischer

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