Goldbrokat
Seidenbauer doch noch günstiger anbieten konnte?
Er musste also eine Begehrlichkeit wecken.
Charnay, dessen rechter Arm nun auch unkontrolliert zu zucken begann, warf den Stift auf den Tisch und verließ das Kontor. Die Dämmerung sank bereits über die Felder, und in den Maulbeerbäumen sangen die Vögel ihr Abendlied. Der Ginster füllte die Luft mit Süße, die Federwolken am Himmel verfärbten sich zu einem flammenden Rot und kündeten einen Wetterumschlag an. Aber nichts von dem drang zu ihm hindurch. Seine Gedanken konzentrierten sich ausschließlich auf die Möglichkeiten, die er noch hatte, um so viel Umsatz wie möglich mit seiner Ware zu erzielen. Nach einer weiten Runde um die Raupenhäuser hatte er einen Entschluss gefasst.
Er musste dieses Jahr die Verhandlungen persönlich führen.
Und zwar nicht nur mit Wever, sondern auch mit dessen schärfsten Konkurrenten, der Firma Andreae, ebenfalls in Mülheim ansässig. Bisher hatte er davon Abstand genommen, da Wever den Hauptanteil seiner Produktion abgenommen hatte, den Rest hatte er auf dem französischen Markt abgesetzt, um auch ein nationales Standbein zu haben.
Wenn er es geschickt anstellte, konnte er die beiden Fabrikanten gegeneinander ausspielen. Aber dazu brauchte er Informationen, die er nur vor Ort erhalten konnte.
Als er mit seinen Planungen bis an diesen Punkt gekommen war, beruhigte sich sein nervöser Tic auch so weit, dass die Gesichtszuckungen erträglich blieben. Er würde jetzt ein, zwei Stunden damit verbringen, die deutschen Gazetten zu lesen, die er sich regelmäßig kommen ließ, darunter vor allem die Kölnische Zeitung, um die Lage in seiner Geburtsstadt zu sondieren.
Mit einem Glas Cognac setzte er sich dazu in den Salon und nahm sich die von seiner Haushälterin sorgsam aufgestapelten Blätter der letzten Wochen vor. Er erfuhr allerlei Wissenswertes über das politische und gesellschaftliche Leben, nahm zur Kenntnis, dass die Eisenbahnbrücke über den Rhein im Oktober fertiggestellt sein würde und auch der neue Bahnhof seiner Vollendung entgegenging. Er überflog mit mäßigem Interesse die heftigen Dispute, die über die Dachkonstruktion des Kölner Doms geführt wurden. Es war ihm weidlich egal, ob sie in Holz oder Stahl ausgeführt werden sollte. Weniger gleichgültig war ihm der Artikel über die Ausstellung des in Barbizon lebenden Künstlers Leander Werhahn, die für einigen Gesprächsstoff gesorgt hatte. Das musste der Bruder Arianes sein. Sollte der Möchtegernkünstler mit seinen Schmierereien tatsächlich Erfolg haben? Später würde er das sicher weiter verfolgen. Die Gesellschaftsnachrichten las er nun besonders gründlich, um sich mit den wesentlichen Protagonisten der Kölner Szene vertraut zu machen. Er musste wissen, wer derzeit den größten Einfluss auf die regionale Wirtschaft hatte. Nach einem intensiven Studium notierte er sich, dass Oppenheim, Schaafhausen, Mertens sowie Carstanjen die Namen waren, die man sich merken musste.
Und dann fand er das Annoncement, das augenblicklich das Zucken seiner Gesichtsmuskulatur wieder auf das Heftigste einsetzen ließ.
Gernot Wever gab die Verlobung mit Frau Ariane Kusan, verwitwet, der geneigten Leserschaft zur Kenntnis.
Das Blatt zerknüllte sich wie von selbst unter seinen ruhelosen Fingern. Kleine Fetzen stoben durch den Raum, mit ungezügeltem Zorn packte er einen ganzen Stapel Zeitungen und zerriss sie wie Flockseide. Der Boden war bald bedeckt mit Papierschnipseln, und der Abendwind, der durch das geöffnete Fenster wehte, wirbelte sie um seine Füße.
Als er sich endlich beruhigt hatte, stand sein Entschluss fest.
Sowie die Kokons abgehaspelt waren und der diesjährige Ertrag an Seide abzusehen war, würde er nach Köln aufbrechen.
Es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich aus der Verbindung zwischen Wever und Kusan nicht Kapital schlagen ließe!
Das Geheimnis des chinesischen Teppichs
Heulend kommt der Sturm geflogen,
Der die Flamme brausend sucht.
Prasselnd in die dürre Frucht
Fällt sie, in des Speichers Räume,
In der Sparren dürre Bäume …
Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke
Unsere Verlobungsfeier fand in sehr kleinem Rahmen statt, aber sie versöhnte Tante Caro mit mir und der Welt, vor allem, weil Gernot ihr eine Länge violetter Atlasseide geschenkt hatte, die sie – nicht von mir – zu einer Robe hatte verarbeiten lassen, die ihr das gefällige Aussehen eines Nektar naschenden Kolibris verlieh, zumal sie sich
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