Goldbrokat
ging, aber als die Situation günstig war, traf seine Faust Leanders Brust, und der brach mit einem Laut der Verblüffung zusammen.
»Das geht gleich vorbei, mein Freund, und dann unterhalten wir uns in Ruhe. Einverstanden?«
Da eine Antwort nicht zu erwarten war, nutzte er die Zeit, um sich die Bilder näher anzusehen. George hingegen kniete neben dem gefällten Künstler nieder und massierte dessen Brust, damit die Atmung wieder in den rechten Rhythmus kam.
Morgenlicht, das schien wirklich das derzeitige Thema zu sein. Einige Bilder zeigten herbstliche Bäume im Nebel, einen Weiher, halb verborgen im hohen Gras, eine Steinformation, von der Morgensonne gefärbt, violette Schatten werfend, die allgegenwärtigen Ziegen dazwischen. Die Gemälde hatten einen seltsamen Reiz; auch wenn sie ungewöhnlich grob gemalt schienen, so hatte Leander doch die Stimmung des anbrechenden Tages eingefangen.
Ein Stöhnen lenkte ihn von der Betrachtung der Gemälde ab.
»Was willst du hier, Drago? Du solltest in deinem Grab verrotten.«
»Ich weiß. Das wäre mir auch fast gelungen.«
»Wer ist der Junge?«
Leander hatte sich aufgesetzt und stand jetzt mit Georges Hilfe auf.
»George Liu, Servatius’ Sohn. George, dies ist mein Schwager. Der Bruder der Mutter meiner Kinder«, übersetzte er die Verwandtschaftsbeziehung.
George verbeugte sich, streckte dann aber die Hand aus, die Leander ergriff.
»Freut mich, dich kennenzulernen. Und danke für deine Hilfe. Drago hat ein paar fiese Tricks drauf.«
»Cousin Drago hat qi benutzt. Ist das fiese Trick?«
»Hierzulande, George, würde man das so sehen. Die europäischen Männer kämpfen sehr ungeschlacht. Sie schlagen einfach auf alles drauf, was ihnen im Weg steht.«
»Richtig. Und du stehst im Weg. Warum bist du zurückgekommen?«
»Ich suche meine Kinder.«
»Ach ja? Das fällt dir aber früh ein.«
»Ich weiß.«
Leander schüttelte entwaffnet den Kopf. »Sag mal … Ach was, kommt und frühstückt mit mir, ich bin seit Sonnenaufgang unterwegs und habe Hunger.«
»Wir sind ebenfalls schon lange unterwegs und nehmen deine Einladung gerne an. Aber ich muss mich zuerst um die Pferde kümmern.«
»Bring sie auf die Koppel gegenüber, der Bauer hat nichts dagegen.«
Der Kaffee war danach zwar nur noch lauwarm, aber das frische Brot knusprig und der Brie gerade richtig reif. George, der sich weidlich Mühe gab, die für ihn ungewohnte, fremde Nahrung zu probieren, schüttelte den Kopf und nahm nur trockenes Brot.
»Vergammelte Milch schätzt man in China nicht, Leander. Hast du Honig oder Marmelade da?«
»Erdbeermarmelade, von meiner Nachbarin. Für eine Skizze ihres Hundes.«
Sie aßen in schweigender Eintracht, dann begann Drago zu erzählen.Von dem Handelshaus, dessen Teilhaber er seit Servatius’Tod war, von seinen Geschäften mit Tee und Seide, dem Leben im europäischen Settlement, von den Mönchen vom Kalten Berg und den kaiserlichen Seidenmanufakturen. Und von den Seidenspinnern, den Schmetterlingen, die starben und ihre eigene Brut nie sahen.
»Du hast also das Licht gesehen, Drago?«
»Eine Erleuchtung gehabt, ja, so nennt man es wohl.Wo lebt deine Schwester jetzt, Leander? Ich habe in Braunschweig nach ihr gesucht und in Hiltrup, aber sie hat ihre Spuren gut verwischt.«
»Ich könnte es dir sagen, Drago, aber ich weiß nicht, ob das gut wäre.«
Er nickte.
»Es ist dein Recht zu zweifeln. Aber sag mir wenigstens, ob es den Kindern gut geht.«
Leander stand auf, wühlte im Atelier herum und kam mit einer Skizzenmappe zurück.
»Bitte.«
Während er das Geschirr in den Spülstein stellte, schlug Drago die Mappe auf.
Eine Rötelzeichnung lag obenauf. Ein Mädchengesicht mit einer vorwitzigen Nase, Locken, die sich aus den Zöpfen lösten, ein skeptischer Blick, der den Betrachter zu fragen schien, ob er das ernst meinte, was er da gerade erzählt hatte.
Das zweite Bild zeigte einen Jungen, dessen Grinsen einen schiefen Zahn enthüllte.
Er legte beide Zeichnungen nebeneinander und ließ sein qi den Weg zu ihnen finden. Es ging so leicht, so unbeschwert. Da waren sie, seine Kinder. Gesund, aufgeweckt, fröhlich, ein bisschen verwegen.
Erleichterung durchflutete ihn.
Er sah auf, und sein Blick traf Leanders Augen.
»Danke.«
»Sie sind feine Kinder, Drago. Und das haben sie zum größten Teil meiner Schwester zu verdanken. Sie hat sie unter verdammten Schwierigkeiten großgezogen. Und die hat sie ausschließlich dir zu verdanken.«
»Hat sie
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