Goldbrokat
zuvor zweimal erschreckt hatte, eine Kellerbewohnerin, deren Bau sicher auch noch andere Ausgänge hatte, denn in diesem leeren, staubigen Raum gab es für sie nichts zu nagen.
Ein leises, metallisches Klappern ließ mich zusammenzucken, das Mäuschen huschte davon, und ich setzte mich auf. Fußtritte, kaum hörbar, direkt vor dem Fenster. Dann scharrte Holz über Pflaster. Das Stückchen Helligkeit vergrößerte sich.
»Kleine Tigerin?«
Allmächtiger!
Ich wollte seinen Namen rufen, doch meine Stimme versagte. Mein Hals war ausgetrocknet, meine Zunge gehorchte mir nicht.
»Ariane?«
Ein raues Husten gelang mir.
Ich rappelte mich auf und stellte mich auf die Zehenspitzen. »Drago!«
Es war kaum mehr ein Wispern, doch er hatte es gehört.
»Ich hole dich da heraus. Bist du unverletzt?«
»Ja.«
»Ich brauche eine halbe, vielleicht auch eine ganze Stunde. Sollte Charnay in der Zwischenzeit kommen, bring ihn um.«
Eine einfache, klare Anweisung.
Etwas fiel durch die Öffnung, und ich bückte mich danach. Ein Schürhaken. Na, das war allemal besser als ein Handarbeitsscherchen.
Die Schritte entfernten sich, und ich lehnte mich, vor Erleichterung leise keuchend, an die Wand. Nicht mehr gefesselt, nicht mehr geknebelt, dafür aber bewaffnet und voller Gewissheit, im Laufe der nächsten Stunde dieses Gefängnis verlassen zu können.
Gab es mehr als dieses Glück?
Wie hatte er mich nur so schnell finden können?
Aber wozu darüber spekulieren, er würde es mir sehr bald sagen.
Der Hotelportier kuschte wie ein getretener Hund, als Drago ihm seine Befehle erteilte. Ein junger Page wurde herbeigerufen und erhielt die barsche Order, sich als Bote im Haus der Witwe Elenz bereitzuhalten. Die Nachricht, die er zu überbringen hatte, musste unverzüglich auf sein Zimmer gebracht werden. Das Appartement neben seiner Suite sollte bereitgestellt werden.
Dann lief er mit großen Schritten die Treppe hoch und klopfte an Georges Tür.
Der junge Halbchinese saß an dem kleinen Tisch und malte mit bedächtigen Pinselstrichen Schriftzeichen auf ein Blatt Papier.
»George, ich brauche deine Hilfe.«
Traurige Augen sahen ihn an.
»Verzeihen Sie, Cousin Drago. Aber ich möchte dieses Gedicht fertig schreiben.«
»Ich weiß, ich lasse dich nie zur Ruhe kommen, Junge. Es tut mir leid. Aber ich brauche dich wirklich. Ich habe die TaiTai gefunden. Sie ist in einem Keller eingesperrt, und wenn der Mann, der sie entführt hat, zurückkommt, wird er sie quälen.«
Langsam legte George den Pinsel nieder und senkte den Kopf.
Es war zu viel für den Jungen. Nun gut, dann musste es eben auch ohne ihn gehen.
Er eilte in seine Räume und zog sich die Kleidung an, die er in China und auf dem Schiff meistens getragen hatte. Eine schwarze Seidenhose, ein ebensolches Oberteil und eine gesteppte Jacke. Weitaus bequemer als die Lederschuhe waren die Filzstiefel, in die er die Hosenbeine steckte und dann festschnürte. Vor allem waren sie sehr viel leiser. Dann holte er aus einem polierten Holzkästchen eines der wenigen Erinnerungsstücke. Servatius hatte ihm und Ignaz vor vielen Jahren bei ihrer gemeinsamen Mittelmeerreise je ein Messer geschenkt. Es waren ganz besondere Messer, sie wurden in Südfrankreich von einem Schmied in Laguiol für die Hirten und Bauern hergestellt. Ihre
Besonderheit lag darin, dass die Klinge in das Heft geklappt werden konnte. Es war eine wunderschöne Arbeit, der Horngriff bernsteinfarben, mit silbernen Ornamenten, die in einer Jakobsmuschel am Griffvorsprung endeten.
Einen kleinen Augenblick wog Drago das Messer in der Hand. Fäden, verbindende Fäden, bis in die Vergangenheit.
Natürlich hatte sein Pate ihn auch gelehrt, mit dieser Waffe umzugehen.
Er steckte es in die Tasche, und noch einmal schaute er bei George ins Zimmer. Er malte noch immer kunstvolle Zeichen und sah nicht auf.
Morgen würde er sich um ihn kümmern. Nicht jetzt.
Der Portier machte große Augen, als er ihn an seinem Empfangstresen vorbeigehen sah, machte aber keine Bemerkung. Draußen auf der Straße verschmolz er mit der Dunkelheit, und in einem lautlosen, gleichmäßigen Lauf erreichte er die Bechergasse kurz darauf.
Seine erste Erkundung direkt nach dem Besuch bei Madame Mira hatte ergeben, dass das Haus mit dem Grinkopf über der Tür unbewohnt war. Der Vordereingang war mit Brettern vernagelt, die Fensterläden von innen verschlossen. Nichts deutete darauf hin, dass jemand vor Kurzem darin gewesen war. Aber die Rückseite
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