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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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kleiner Seidenwurm.«
    Ich holte aus der Vorratskammer die ersehnte Limonade, goss mir einen großen Becher voll ein und trank ihn durstig aus.
    »Ich werde sie vermissen, sie war eine begnadete Näherin, eine sanfte, zurückhaltende junge Frau ohne große Ansprüche. Und so dankbar für jede Zuwendung.« Dann fiel mir ein, dass es ja noch jemanden gab, dessen Trauer viel größer sein musste als die meine. »LouLou wird es schwer getroffen haben.«
    »Ja, Ariane. Zu schwer.« Drago trat vor mich und nahm meine Hände in die seinen. »Besser, du weißt es gleich, kleine Tigerin. LouLou hat es nicht ertragen. Sie ist Nona gefolgt.«
    »Gefolgt?« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was er sagen wollte. »Sie hat sich das Leben genommen?«

    »Ja. Heute Vormittag. Ihr Bruder, George und ich haben sie gefunden.«
    »Mein Gott.«
    »Ariane, für große Trauer ist jetzt keine Zeit. Die Gegenwart verlangt unsere Aufmerksamkeit. Du kannst nicht hierbleiben. Bitte zieh dir ein sauberes Kleid an und pack eine Tasche mit den nötigsten Dingen. Ich habe ein Zimmer für dich im Hotel richten lassen.«
    Richtig, mein Schlüssel! Charnay, sollte er doch noch diese Nacht nach mir suchen, würde ungehindert in die Wohnung eindringen können.
    Ich ging in mein Schlafzimmer und zog das vollkommen verdreckte Kleid aus, warf auch die Unterröcke und die andere Unterkleidung in den Korb. Es war das zweite ruinierte Kleid in dieser Woche, das ich nie wieder tragen würde. Ich hätte mich gerne gründlich gewaschen, aber dazu war keine Zeit. Ich wählte ein warmes Wollgewand und eine Samtjacke, packte mein Nachthemd und den Morgenmantel in meine Tasche und wollte zu meinen Haarnadeln und der Bürste greifen, als mein Blick in den Spiegel fiel.
    Haarnadeln würde ich die nächsten Monate nicht mehr benötigen.
    Und mein Gesicht musste ich dringend waschen. Es war schwarzstaubig, und getrocknetes Blut verschmierte meine Stirn und Wangen.
    Im Krug war noch Wasser, und ich reinigte mich, so gut es ging. Als ich meine Schläfe berührte, begann die Beule dort wieder heftig zu schmerzen.
    Aber auch diesen Schmerz musste ich jetzt ignorieren, genau wie den um LouLous Tod.
    Ich kehrte in die Küche zurück und fand auf einem Teller ein Schinkenbrot.Viel zu dick geschnitten, sowohl das Brot als auch der Schinken, aber geradezu unwiderstehlich.
    »Im Hotel hättest du auch etwas bekommen, aber ich denke, das Personal werden wir erst einmal dazu anhalten, dir ein
heißes Wannenbad zu richten. Iss, kleine Tigerin. So viel Zeit haben wir noch.«
    Ich befolgte seinen Rat, während er mir berichtete, wie er mir auf die Spur gekommen war.
    Danach machten wir uns auf den Weg ins Domhotel. Es war bereits ein Uhr, aber Drago hatte offensichtlich so viel Einfluss auf das Personal, dass ich tatsächlich binnen kurzer Zeit im Luxus einer ganzen riesigen Wanne voller heißem, parfümiertem Wasser schwelgen konnte. Doch während sich meine müden Muskeln lockerten, überschwemmte mich wieder die Trauer.
    LouLou und Nona, die beiden Frauen, die in den beiden letzten Jahren meine Freundinnen geworden waren, lebten nicht mehr.Wie falsch hatte ich LouLou eingeschätzt. Die kühle, berechnende Geschäftsfrau, die begabte Tänzerin, die sarkastische Kritikerin – wie sehr musste es ihr an Liebe und Zuneigung gemangelt haben, dass sie, als ihr Nonas Zuneigung verloren ging, ihr Leben beendete. Ihre und Gernots Kindheit und Jugend waren hart, freudlos und sogar tragisch gewesen. Die Eltern fanatische Sektierer, die Nachbarn bigotte Frömmler, sie hatten acht ihrer Geschwister sterben sehen. Krankheit, Gewalt, Unfälle und Verzweiflung hatten ihren Tod verursacht. Armer Gernot – nun war er der Letzte der Familie. Und ich würde ihn nun ebenfalls verlassen.
    Ich rutschte tiefer in das Wasser und tauchte auch meine kurzen Haare hinein. Es tat mir weh, dass ich Gernot das antun musste. Aber auch ich konnte nun nicht anders. Hätte er mir ein wenig mehr seine Gefühle gezeigt, wären wir vermutlich schon vor einem Jahr verheiratet gewesen.
    Und dann?, fragte mich eine leise innere Stimme. Hättest du dann Drago widerstanden?
    Nein, vermutlich nicht.
    Das, was mich mit ihm einte, war mächtiger als alle anderen Bindungen. Es hatte Streit, Scheidung und Jahre der Abwesenheit überdauert, hatte in einer Art Winterschlaf gelegen und war nun wieder erwacht.

    Ich sagte mir, dass ich die Verluste betrauern müsste, aber dieses andere Gefühl überlagerte die

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