Goldbrokat
bin.«
»Arithmetik ist meine ganz schwache Seite, Madame Mira.«
»Mhm. Der alte Stubenvoll wurde Handlanger eines Lyoner Händlers und war viel auf Reisen. Die Familie musste ihr schönes Heim aufgeben und zog in die Bechergasse. Ein ziemlicher Abstieg. Ich bezog die französischen Stoffe über Stubenvoll, er bot mir manchmal Reststücke zu günstigen Konditionen an. Besser hinterfragen Sie nicht zu genau diese Art von Geschäften. Jedenfalls hatte er bei sich im Keller immer ein paar Rollen Seide vorrätig.«
»Lebt der alte Stubenvoll noch?«
»Ach was, der ist in den Dreißigern verstorben, die Frau folgte bald, und die Kinder sind in alle Welt verstreut. Der Wilhelm muss so fünfzehn gewesen sein, als er nach Lyon geschickt wurde.«
»Wer bewohnt jetzt das Haus der Familie?«
»Das große? Irgendein hoher Offizier, hörte ich mal.«
»Ich meine das kleine.«
»Das hat irgendwann ein Schuster übernommen. Ich komme nicht mehr viel herum, Herr Kusan. Und diese engen Gässchen haben für mich schon gar keinen Reiz mehr. Aber wenn Sie glauben, dass dieser Wilhelm dort untergekommen ist, dann halten Sie nach einem Fachwerkhaus Ausschau, das über der Tür einen besonders hässlichen Grinkopf hat.«
»Einen was?«
»Ein Fratzengesicht, Papa. Manche ganz alten Häuser haben so ein scheußliches Ding über der Tür. Ich mag die nicht.«
»Danke, Laura. Danke, Madame Mira, es ist zumindest ein Anhaltspunkt.«
»Lassen Sie mich noch eine Weile nachdenken, Herr Kusan, und tun Sie es auch. Ich habe Ariane sehr liebgewonnen. Ich möchte nicht, dass ihr ein Leid geschieht.«
»Störe ich Sie auch nicht, Madame Mira?«
»Nein, das tun Sie nicht. Schlafen könnte ich jetzt ohnehin nicht mehr.«
Also stand Drago auf und stellte sich an das Fenster. Er zog die Gardine zur Seite und sah in die Nacht hinaus. Gaslaternen beleuchteten die Straßen, hinter vielen Fenstern schimmerte noch Licht. Der Himmel war aufgerissen, und einzelne Sterne funkelten durch die Wolkenlöcher.
Irgendwo dort in dem Gewirr der Gassen war Ariane.
»Noch ist nicht die Zeit des Handelns.«
Hatte das jemand gesagt?
Hatte er tatsächlich die Stimme des Abtes gehört?
Langsam atmete er ein und wieder aus. Es war die Zeit des Spinnens.
Und eingedenk der Tatsache, dass alles Sein durch feine Fäden miteinander verknüpft ist, ließ er das Gespinst aus Vergangenheit und Gegenwart vor seinen Augen entstehen. Es formte sich wie ein feines Netz, hier und da kreuzten sich Fäden, da und dort bildeten sie Stränge, an anderer Stelle lösten sie sich wieder. Manche rissen ab, andere teilten sich plötzlich, einer wurde knotig, ein anderer dünn, wie die Seidenfäden, die er von den Kokons abgewickelt hatte. Er knüpfte an, wo ein Faden zu enden drohte, er entwirrte, wo zwei zu eng beieinander lagen, er ordnete und verfolgte Kreuzungen und Läufe. Ein goldener Faden durchzog das gesamte Gespinst, und er war froh darum, dass er in seiner Hand endete.
Und dann erkannte er den Vorteil auf seiner Seite.
Der rechte Zeitpunkt – nach Jahren war jetzt genau der richtige Zeitpunkt gekommen, um zu erfüllen, was Servatius von ihm verlangt hatte. Der Drache erhob sich.
»Herr Kusan?«
»Ja, Madame Mira?«
»Er hatte einen Tic, der Junge.«
»Ich weiß. Ein Muskelzucken.«
»Das auch. Aber es ging tiefer. Er wollte immer alles sofort haben und wurde jähzornig, wenn er seinen Willen nicht auf der Stelle bekam. Wenn er inzwischen tatsächlich ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, dann hat er diese Eigenschaft auf irgendeine Weise gemeistert. Aber sie beherrscht ihn dennoch, könnte ich mir vorstellen.«
»Ich bedachte das soeben.«
»Er wird nicht in sein Elternhaus zurückgekehrt sein. Sein Vater war streng mit ihm, und ich vermute, er hat ihn gehasst.«
»Nein, in jenem Haus wohnt er nicht.«
»Caro Elenz, Herr Kusan, hat sich in den letzten Wochen einige neue Kleider schneidern lassen, obwohl Ariane ihre Apanage nicht erhöht hat. Sie geht auch wieder mehr aus. Ein Herr begleitet sie manchmal in der Kutsche nach Hause.«
Laura sprang auf.
»Papa, an dem Sonntag, da hatte sie Besuch im Salon. Wir wollten ein Buch holen und sind reingekommen. Philipp, weißt du noch?«
»Ja, sie hat mit uns gezankt, weil wir nicht geklopft haben, aber wir wussten doch nicht, dass wer da war.«
»Der Mann war mager und hatte graue Haare. Und er hat uns böse angeguckt.«
»Ein hagerer Herr, graublonde Haare, elegant gekleidet, sehr aufrechte Haltung. Ich
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