Goldbrokat
Limonade.«
»Nein danke, Madame. Es ist nichts.«
»Doch, Nona. Du siehst elend aus. Fühlst du dich krank? Eine Frühlingsgrippe? Oder etwas anderes?«
Heftig schüttelte sie den Kopf. Madame sollte nur nichts Schlimmes vermuten. Heilige Maria, nein. Sie sollte nicht vermuten, dass sie möglicherweise schwanger war.
»Du hast zu viel gearbeitet, Nona.«
Noch einmal schüttelte sie den Kopf, aber nun liefen ihr die Tränen über die Wangen. Die Erinnerung an die Demütigungen wurde durch das Mitgefühl so unerträglich, dass sie an die Oberfläche drängten. Und als sie das angebotene Taschentuch entgegennahm, um sich das Gesicht abzuwischen, brach es aus ihr heraus: »Madame, Sie haben nie gefragt, was mit meinem Bein ist.«
Madame wirkte ein wenig überrascht, nickte dann aber. »Eine hässliche Narbe, zu der bestimmt keine schöne Geschichte gehört.«
»Nein, nicht schön. Aber Sie müssen wissen.«
»Ja, wenn du sie mir anvertrauen willst, Nona. Keine Angst, ich werde dir wegen deiner Vergangenheit keine Vorwürfe machen.«
Sie war so gut zu ihr, Madame Ariane. Und so berichtete Nona, unterbrochen von krampfhaften kleinen Schluchzern, über ihre Kindheit im Waisenheim von Lyon. Davon, dass sie
mit acht Jahren zur Arbeit bei einem Seidenbauern geschickt worden war. Erst hatte sie Blätter für die Raupen gepflückt, aber als die Zeit der Verpuppung gekommen war, hatte man ihre flinken, geschickten Finger entdeckt, und es wurde schnell ihre Aufgabe, die haarfeinen Fäden abzuhaspeln. Als diese Arbeit getan war, ließ man sie auch das Spinnen der Florettseide übernehmen, denn wie sich zeigte, waren die Fäden, die durch ihre Hände liefen, besonders glatt und ebenmäßig.
»Ich mochte Seide, Madame, sie fühlt sich so sanft an, so fein. Aber ich weinte um die toten Schmetterlinge in den Kokons.«
»Ein Kind hat das Recht dazu, Nona.«
»Sie lachten über mich. Sagten, ich bin wie Raupe so weiß und würde auch eines Tages Puppe, und sie würden mich in kochend Wasser werfen, um mir Kleid auszuziehen.«
»Wie bösartig.«
Nona hob nur die Schultern. Sie fühlte sich ein bisschen sicherer, aber das Schlimmste stand ihr nun noch bevor.
»Ich bin curieuse , sonderbar. Aber Arbeiter waren es nicht. Das mit dem Bein.« Sie hielt inne, suchte nach Worten. »Es ging mir ganz gut. Der alte Herr, Monsieur de Charnay, schätzte meine Arbeit.«
»De Charnay?«
Verblüfft hob Nona den Kopf.
Madame Ariane sah sie eindringlich an. »Guillaume de Charnay?«
» Non , Madame. Das war sein Schwiegersohn. Er übernahm die Leitung, als der alte Herr starb. Ich war zwölf und die beste Seidenspinnerin.«
»Der Schwiegersohn, sagst du? Er muss ein enger Verwandter des Besitzers gewesen sein. Das wundert mich …«
»Nein, Madame, er hat den Namen seiner Frau angenommen. Manchmal das geht.«
»Weißt du, wie er vorher hieß?«
»Nein, Madame, tut mir leid. Aber warum … Kennen Sie ihn?«
Das Lächeln war grimmig, mit dem Madame antwortete: »Ich bin ihm einmal begegnet. Er hat vor neun Jahren um mich angehalten. Ich habe ihm einen Korb gegeben.«
»Korb?«
»Ich habe ihn abgewiesen. Er war mir nicht sympathisch.«
»Die Wege sind seltsam, Madame.«
»So seltsam auch wieder nicht. Er hat Verwandtschaft in Deutschland und war zu Besuch in unserer Stadt.«
»Er ist ein eigenartiger Mann, Madame, un ascète , aber manchmal er braucht Sünde. Ich war nicht die einzige.«
»Nicht die einzige? Hat er dir ein Leid angetan, Nona?«
Nona nickte, aber es fiel ihr schwer, immer noch schwer, über das zu reden, was dann passiert war.Aber Madame war so geduldig, und seltsamerweise hatte der kleine Exkurs über de Charnays Namen ihr eine kleine, hilfreiche Distanz zu ihrer eigenen Geschichte geschaffen. Also nahm sie ihren Mut zusammen.
»Es war, als ich schon achtzehn war. Da bemerkte mich Monsieur. Er … mir fehlt Wort, Madame . Il me violait, vous comprenez ?«
»Er hat dich vergewaltigt. Ja, ich verstehe, Nona. Es scheint, dass ich trotz allem einen gewaltigen Fehler nicht gemacht habe, als ich seinen Antrag ablehnte.«
Es lag Mitgefühl in Madames Stimme, aber sie fragte nicht tiefer nach. Darum schluckte Nona die Bitterkeit hinunter und erzählte weiter. Sie war schwanger geworden, aber schwangere Arbeiterinnen wurden entlassen. In ihrer Angst wurde sie nachlässig beim Arbeiten, und so passierte es, dass ihr ein Bottich mit kochendem Wasser, in dem die Puppen der Seidenwürmer abgetötet wurden, umkippte und
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