Goldbrokat
Nicht, dass es Freiheit bedeutet hätte. Das Kindermädchen, ein Fräulein Hedwig, das die beiden Söhne und die drei kleinen Töchter von ihrem Onkel aus Hannover beaufsichtigte, sollte für Disziplin und Beschäftigung der ganzen Meute sorgen.
Es gelang ihr nicht besonders gut, denn Benni und Manni hatten sich schon eine ganze Menge eigener Belustigung ausgedacht. Und die bestand überwiegend darin, Fräulein Hedwig zum Wahnsinn zu treiben.
Dazu kam es auch wirklich in der zweiten Nacht.
»Sie schlüpft zu Onkel Thomas ins Zimmer, wenn er zu Bett geht. Und eine Stunde später kommt sie wieder raus. Im Nachthemd. Und schleicht in ihr Bett«, erklärte Benni und erläuterte dann mit der ganzen männlichen Weisheit seiner zwölf Jahre, was sich hinter der verschlossenen Tür abspielte. Um Fräulein Hedwigs lustvolles Erleben noch weiter zu steigern, hatten er und sein Bruder geplant, sie auf dem Rückweg als Geisterspuk zu erschrecken, was mittels eines weißen Kopfkissens und eines Lakens auch ganz trefflich gelang.
Bedauerlicherweise erschrak das arme Kindermädchen derart, dass es die Treppe hinunterstürzte und sich ein Bein brach.
Mama nahm Philipp am nächsten Vormittag sehr streng ins Gebet. Andererseits aber verbesserte sich dadurch die Situation auch wieder, denn da Fräulein Hedwig mit eingegipstem Bein im Krankenhaus lag, erklärte sich Cousine Hannah bereit, sich um die Rasselbande zu kümmern.
Und Cousine Hannah war viel netter. Sie kannte unzählige Spiele, konnte Gitarre spielen und brachte ihnen lustige Lieder bei, vor allem besaß sie ein paar Bücher mit wirklich prima Geschichten. Zwar keine von Seeräubern und Schiffbrüchen, aber solche von Spuk und Gespenstern, nächtlich umgehenden weißen Frauen und kopflosen Rittern.
Schade, dass sie zwischendurch auch im Salon bei den Erwachsenen erscheinen musste. Außerdem hatte sie einen Verlobten, mit dem sie Spaziergänge machte.
Laura mochte den Mann nicht, Philipp war er zunächst gleichgültig. Aber als er ihn am vierten Tag ihres Aufenthalts erwischte, wie er den Pflaumenbaum im Garten hochkletterte – die Leiter stand angelehnt am Stamm, damit war doch eine förmliche Einladung ausgesprochen, sich an den Früchten zu bedienen, oder? -, hatte er ihn eigenhändig vom Ast gepflückt und ihm eine Strafpredigt gehalten.
Er roch nicht gut aus dem Mund. Und seine schweißigen Hände hatte er auch zu lange auf seinem Hintern gehalten, fand Philipp und gab seiner Schwester recht. Armin Kamphoff war nicht sein Fall.
Onkel Thomas hingegen schon eher. Der war lustig, hatte trockene Hände und konnte Witze erzählen. Mama mochte ihn auch. So sehr, dass sie mit ihm im Garten geschmust hatte.
Was ein lange beiseitegeschobenes Problem wieder in Philipps Bewusstsein brachte. Eines, das er ausschließlich mit seiner Schwester – auch wenn sie nur ein Mädchen war – besprechen konnte. Denn sie hatten einige merkwürdige Gespräche belauscht. Nicht absichtlich natürlich, sondern zufällig. Deshalb zogen die Geschwister sich auch am Nachmittag des siebzigsten Geburtstags ihres Großonkels, während unzählige Besucher die unteren Räume bevölkerten, mit ihrer Beute in die Abgeschiedenheit der Mansarde zurück.
»Tante Elisa hat gesagt, er hat sie nur wegen der Mitgift geheiratet, aber Cousine Milli behauptet, sie hätte ihn verführt.«
»Ja, und deshalb hat er sie nicht gemocht. Haben sie gesagt. Und dann ist er verreist«, ergänzte Laura. »Aber ich glaub das nicht. Mama hat gesagt, er ist tot. Und sie war früher oft traurig, weißt du noch?«
»Ja, und sie hat auch gesagt, dass er ein Abenteurer war. Aber das ist ja nichts Schlimmes. Er sieht zumindest nicht böse aus, findest du nicht auch?«
Sie beugten sich beide über die Daguerrotypie, die sie auf einem der vielen Kaminsimse gefunden hatten. Darauf war ganz deutlich ihre Mama zu erkennen. Sie saß auf einem Sessel, in einem tief ausgeschnittenen hellen Kleid und einem von einer Spitzenkrone gehaltenen Schleier, der sich wie eine Wolke um sie herum bauschte. Neben ihr stand ein Mann in schwarzem Frack und gemusterter Weste. Seine Haare waren dunkel und lockten sich, um sein Kinn und seinen Mund trug er einen wie mit einem dünnen Pinsel gemalten schmalen Bart. Und da er Mama anlächelte, sah man auch seine Zähne. Und die waren genauso ein bisschen schief wie Philipps.
»Das ist unser Papa. Ich bin ganz sicher.«
»Mhmh. Das ist ihr Hochzeitskleid.« Und nach einer Weile sagte auch
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