Goldbrokat
Laura: »Nein, er sieht nicht böse aus.«
»Schade, dass wir uns nicht an ihn erinnern können. Ich hab’s versucht, Laurie. So vorm Einschlafen, weil da manchmal die Bilder erscheinen. Aber ich kann mich nicht an ihn erinnern.«
»Er ist tot.Vielleicht geht das deshalb nicht. Ich glaub, er wär ein netter Papa gewesen.«
Laura klang plötzlich so traurig, dass auch Philipp davon angesteckt wurde. Eigentlich hatte er seinen Vater nie richtig vermisst, erst seit sie zur Schule gingen und von ihren Kameraden hörten, was es bedeutete, einen Vater zu haben, war ihm sein Fehlen aufgefallen. Auf der anderen Seite – Mama war besser als viele Väter, wenn man die Beschreibungen so hörte. Hatte sie sie nicht mit in die Weberei genommen und dann noch – welch himmlisches Paradies – in die Schokoladenfabrik? Und es jetzt sogar möglich gemacht, eine echte Dampflok zu besichtigen?
Trotzdem …
Laura strich mit ihrem Zeigefinger über das Glas des Bilderrahmens, dort, wo sich sein Gesicht befand.
»Vielleicht wäre er streng mit uns«, vermutete Philipp.
»Ja, vielleicht.«
»Oder würde uns hauen.«
»Mhm.« Und ganz leise kam es dann von Laura: »Oder lieb haben.«
Auch Philipp fuhr mit der Fingerspitze über das lachende Gesicht seines Vaters und murmelte: »Dann könnt er mich auch hauen.«
»Mhm.«
Versunken in eine unerfindliche Trauer betrachteten sie beide schweigend das Bild. Dann aber besann sich Philipp wieder auf den wichtigsten Teil ihrer Unterhaltung.
»Glaubst du, dass Mama heiraten will?«
»Weil Tante Caro sie immerzu triezt deswegen?«
»Tante Caro ist eine Klapperbüchse, darauf muss man nichts geben. Ich meine wegen Herrn Wever. Und so.«
Das »und so« betraf natürlich die Schmusereien mit Onkel Thomas, und das wusste Laura auch.
»Ich glaub, sie mag Herrn Wever. Aber sie schmust nicht mit ihm, sondern zeichnet Stoffmuster für seine Fabrik.«
»Ja, aber er kommt sehr oft und führt sie aus. Und er küsst ihre Hand.«
»Und sie hat ihn auf dem Segelboot geküsst.«
Das galt es zu beachten, genau wie die Blumen und die Pralinen. Und die Dampffabrik.
»Er ist ganz nett, findest du nicht, Laurie?«
»Ja...«
»Nicht?«
»Er hat einen Stock im Rücken.«
»Stimmt. Und richtig lustig sein kann er auch nicht.«
Wieder musste Philipp das lachende Gesicht seines Vaters ansehen. Es strahlte richtig. Das war nicht nur ein höfliches Lächeln. Der Mann auf dem Bild freute sich wirklich.
»Aber er hat Geld und ein schönes großes Haus. Und zu uns ist er bisher immer nett gewesen.«
»Mhm.«
Und dann brach aus Laura heraus, was Philipp bislang nicht hatte in Worte fassen können.
»Er ist langweilig !«
»Stimmt.«
Ihre kleine Konferenz wurde jäh unterbrochen, noch bevor sie die Erkenntnis nutzen konnten, um Pläne für die Zukunft zu schmieden. Mama trat ins Zimmer und warf ihren strengen Blick auf sie beide.
»Deserteure!«
»Ja, Mama.«
»Ich werde euch bei Wasser und Brot aussetzen, wenn ihr euch nicht gleich wieder nach unten begebt. Cousine Hannah wird ihre Verlobung verkünden, und wir müssen ihr gratulieren.«
»Ja, Mama.«
»Was habt ihr denn da erbeutet?«
Sie beugte sich über die gerahmte Daguerrotypie, und ihre Gesichtszüge wurden plötzlich ganz weich.
»Oh, mein Hochzeitsfoto.«
»Es stand im Kleinen Salon auf dem Kaminsims.«
»Da gehört es auch wieder hin. Gib es mir, Philipp. Und nun runter mit euch, und ihr benehmt euch bitte wie zwei mustergültige Offizierskadetten bei der Inspektion!«
»’türlich!«
Der Trubel war schließlich vorbei, und der letzte Tag vor der Abreise war angebrochen. Benni und Manni waren bereits abgereist, die ortsansässigen Verwandten gingen ihren eigenen Beschäftigungen und Pflichten nach, in der Villa kehrte Ruhe ein. Darum fand Mama auch wieder Zeit, sich um sie zu kümmern, und an dem sonnigen Nachmittag schlug sie einen gemeinsamen Spaziergang vor. Da Haro, Onkel Ernsts alter Schäferhund, sie begleiten sollte, würde der Ausflug nicht zu öde werden. Der Hund liebte es, Stöcke zu apportieren und mit seinen Menschen darum zu rangeln.
Das Ziel allerdings, das Mama gewählt hatte, verblüffte Philipp dann doch.Vor der hohen Friedhofsmauer wies sie ihn an, Haro an die Leine zu nehmen und kurz zu halten. Dann schlenderten
sie durch die Gräberreihen. Zwischen dunklen Eiben, Lebensbäumen und Lorbeer breitete hier ein verwitterter Engel seine Flügel aus, da mahnte ein hoher Obelisk, der Gefallenen der letzten
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