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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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weiten Rüschenrock Jungshosen angezogen, und den Rock hatte sie jetzt in ihre Tasche gesteckt und ihnen beiden Ballonmützen aufgestülpt.
    »Sie ist jetzt Laurin, dein kleiner Bruder, vergiss das nicht.«
    »Nein, Mama.«
    »Und ihr kommt sofort zurück, wenn der Lokomotivführer es sagt. Kein Betteln und kein Nörgeln, verstanden?«
    »Ja, Mama.«
    »Und ihr seid auch höflich und hört auf das, was er sagt.«
    »’türlich!«
    Das musste im Brustton der Überzeugung gesagt werden, denn Philipp war bereit, jedes Wort, ja jeden Buchstaben einzeln aufzusaugen, den der Halbgott oben auf dem Führerstand von
sich zu geben belieben würde. Mama hatte sie an die Hände genommen, was zwar eigentlich nicht notwendig war, aber für den Genuss, auf eine echte Dampflok klettern zu dürfen, hätte er noch ganz andere Torturen über sich ergehen lassen.
    Sie waren in Duisburg angekommen, wo der Kessel frisches Wasser aufnehmen musste und der Kohletender neu befüllt wurde. Daher gab es hier einen Aufenthalt, und Mama hatte wohl schon lange zuvor mit dem Eisenbahner ausgemacht, dass ihre beiden Söhne die Maschine besichtigen durften.
    Der Lokführer war ein rundlicher Herr im schwarzen Anzug und Zylinder, der ihnen aus einem zerzausten Backenbart heraus zugrinste.
    »Junge Ingenieure, was?«, grumpelte er. »Na, dann kommt man hoch.«
    Er musste ihnen auf den Führerstand weit oben über dem zwei Meter hohen Antriebsrad helfen, und dann erklärte er ihnen in viel verständlicheren Worten, als jeder Lehrer es konnte, wie die Kolben gesteuert wurden, wie man bremste, wie die Feuerbüchse mit Kohlen versorgt wurde und so viele andere Sachen mehr. Laura war ganz still geworden, aber er, Philipp, hatte einige Fragen gestellt. Schließlich hatte aber auch Laura eine ziemlich blöde Frage vorgepiepst.
    »Ist das nicht ganz schön windig hier oben? Ich meine, wenn Sie richtig schnell fahren?«
    »Das ist es wohl. Darum haben sie mir ja auch endlich diesen Windschutz aufgebaut.«
    Das war allerdings nur eine ziemlich schäbige Scheibe, rußverschmiert und voller toter Fliegen.
    »Auf einem Pferd oder einer Kutsche hat man auch keinen Windschutz«, wies Philipp seine Schwester zurecht, und der Lokomotivführer lachte.
    »Na, ein büschen schneller sind wir schon. Ohne Last kann die Crampton hundertzwanzig Kilometer in der Stunde zurücklegen. Und selbst mit Wagons sind es über achtzig.«
    Unglaublich!

    Und dann kam der krönende Abschluss. Kurz bevor die Reise weitergehen sollte, durfte Philipp nämlich ganz kurz an dem Hebel ziehen, der die Dampfpfeife ertönen ließ.
    »So, und nun zurück zu Muttern, ihr zwei.«
    Er half ihnen, nach unten zu klettern und machte eine lustige kleine Verbeugung vor Mama.
    »Da haben Sie Ihren Sohn und Ihre Tochter wohlbehalten wieder, gnä’ Frau. Kluge Kinder haben Sie.«
    »Klug genug aber nicht, um sich an die Verabredungen zu halten.«
    Er lachte wieder dröhnend und tätschelte Laura.
    »Ist’n süßes Dingelchen. Hab selbst zwei Mädchen, aber die wollen von Maschinen nichts wissen. Und nu steigen Sie ein, es geht gleich weiter.«
    »Danke nochmals, Herr Lokführer«, sagte Mama und drückte dem Mann einen Umschlag in die Hand.
    »Doch da nicht für«, sagte der und reichte ihn an Philipp weiter. »Kauft euch ein paar Bonschen davon.«
    Also, das war ein Erlebnis! Man konnte danach sogar Tante Caros Lamentieren ertragen. Ihr waren die Sitze zu hart, es ruckelte zu stark, im Coupé war es zu warm, wenn das Fenster zu war, und zu rauchig, wenn Mama es öffnete, beim Aus-dem-Fenster-Gucken wurde einem schwindelig, beim Lesen übel.
    Aber Laura und er ertrugen es mannhaft und lösten mit Mama Rätselspiele.
    In Hamm mussten sie umsteigen, und den Aufenthalt nutzten sie, um in dem Gasthof am Bahnhof ein Mittagessen einzunehmen. Dann ging es noch einmal eine Stunde weiter bis Münster, wo sie am Bahnhof ein Bediensteter von Großonkel Ernst mit einer Equipage abholte.
    Tante Caro seufzte, als sie schließlich die Villa erreicht hatten, dass der Heiligen Jungfrau zu danken sei, die sie die Strapazen hatte unbeschadet überstehen lassen. Philipp und Laura waren sich jedoch einig, dass die wirklichen Strapazen jetzt erst begannen. Sie wurden herumgereicht, von zahllosen Tanten, Cousinen
und anderen weiblichen Verwandten abgeküsst, ihre Größe kommentiert und ihre Ähnlichkeit mit Mama bestaunt.
    Endlich durften sie in das Mansardenzimmer verschwinden, das für die jüngsten Besucher vorgesehen war.

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