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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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tai pan . Schon seit Jahren, aber jetzt wird sie immer schlimmer. Es hat schon Aufkäufe gesunder Seidensaat in Japan gegeben, berichtet man.«
    »Kann man die Seidensaat denn überhaupt transportieren?«
    George lachte leise: »Was glaubt Ihr wohl, wie die Seide einst nach Europa gekommen ist? Sogar über den langen Landweg hat man sie mitgenommen. Ich weiß nicht viel von den Eiern des Seidenspinners, aber sie scheinen recht haltbar zu sein.«
    Er nahm sich vor, mit der Raupenmutter darüber zu sprechen, aber seine Gedanken gingen ganz andere Wege. Die Seide aus Suzhou konnte nicht ausschließlich für Hofgewänder verwendet werden, es musste einen Überschuss geben, der auf anderen Märkten gehandelt wurde. Die Gesellschaft, deren Anteile er von seinem Paten Servatius geerbt hatte, besaß Schiffe, die europäische Güter nach China brachten und mit hohem Gewinn verkauften oder tauschten. Er und seine Partner pflegten enge und gute Beziehungen zu den chinesischen Hongs, den Kaufmannsgilden, die das alleinige Recht hatten, mit den Europäern Handel zu treiben. Zudem wusste er gut genug über die Korruption der Beamten Bescheid, um an der richtigen Stelle die richtigen Waren einzukaufen, und verfügte über genügend Mittel, das auch zu tun.
    Bisher hatte er hauptsächlich mit Tee gehandelt, Porzellan und Lackwaren als gewinnbringende Spielerei betrachtet und Seidenstoffe nur in geringem Umfang exportiert, da ihm der Absatzmarkt nicht lukrativ genug erschien.
    Inzwischen hatte sich die Situation aber geändert, und da ihm ein tiefer Einblick in die Seidenproduktion gewährt worden
war, sah er nun eine Möglichkeit, seine geschäftlichen Aktivitäten auf ein neues Gebiet auszudehnen.
    Die Zeit des Nichthandelns war vorüber; die Zeit war gekommen, aus seinem Wissen und seinen Fähigkeiten Kapital zu schlagen.Viel zu lange schon hatte er die Geschäfte von seinen Partnern führen lassen. Daher hatte er nach einer Weile schweigenden Nachdenkens, die den armen George schon unruhig auf seinem Sitz hin- und herrutschen ließ, gefragt: »George, wo wird die Rohseide von Suzhou gehandelt?«
    »Ich weiß es nicht, tai pan .«
    »Finde es heraus. Aber ohne Aufsehen zu erregen.«
    »Ja, tai pan .«
    Er registrierte erfreut, dass die Augen des jungen Halbchinesen zu leuchten begannen. Der Junge war begierig, etwas zu tun, und offensichtlich war er froh, endlich mit seinen getreulich überbrachten Nachrichten Gehör gefunden zu haben.
     
    Die goldgelben Blätter über ihm raschelten, während er gelassen bergan zum Kloster wanderte. Eine Antwort auf seine Frage würde er von George frühestens in einigen Tagen erhalten, und er betrachtete sich selbst mit leisem Amüsement. Wie chinesisch er in dem Jahr geworden war, das er unter den Mönchen verbracht hatte. Früher hätte er sofort Pläne geschmiedet, Strategien entworfen, einen Haufen Leute verrückt gemacht. Jetzt war er geduldig geworden, verbannte die wilden Spekulationen aus seinen Gedanken und betrachtete die sich wandelnde Natur. Keiner jedoch hatte ihn gemahnt, sich so zu verhalten, niemand hatte ihm Vorschriften gemacht, was er tun oder lassen sollte. Seine Lehrer – als solche sah er inzwischen die Mönche, die sich um ihn kümmerten – dozierten und erklärten nie. Sie stellten ihn vor Aufgaben, überließen es ihm, sie zu lösen. Es musste an ihrem Geschick liegen, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Herausforderungen zu wählen, sodass er sie bewältigen konnte.
    Er hatte viel gelernt, am meisten jedoch von dem Abt – dem
Mann, der so gut wie nie mit ihm sprach, und wenn, dann nur eigenartige Äußerungen von sich gab. Aber dadurch, dass er auf diese Weise selbst angeregt wurde, in einem schweigenden Gespräch, in Gedanken also, seine Fragen zu formulieren, erhielt er unverhoffte Antworten.
    »Was ist Gegenwart?«, war Xiu Dao Yuans letzte Bemerkung auf ihren stillen Dialog gewesen, und diese Frage beschäftigte ihn seither.
    Früher hätte er darüber gelacht und geantwortet: Na, jetzt! Aber nun erschloss sich ihm bei der Erforschung dieser Angelegenheit eine andere, weit größere Gedankenwelt.
    Durch die Konzentration auf die Gegenwart gewann die Vergangenheit eine andere Bedeutung. Die Zukunft bekam ebenfalls ein neues Gewicht, wenn man ausschließlich das Jetzt als Leben akzeptierte. Durch diese Sicht lösten sich die schweren Ketten, die ihn an das Verflossene fesselten. Noch immer wogen die Verluste schwer, sicher. Seine Mutter hatte er kurz nach der

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