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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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legte er die westliche Kleidung ab, die chinesische an und nahm seine stillen Übungen wieder auf. Am Nachmittag fanden sich auch seine beiden Lehrer ein, und mit einer neuen Kollektion blauer Flecken, aber durchaus zufrieden mit seiner eigenen Leistung aß er später mit ihnen. Mochten in den Städten und Dörfern auch ausgelassene Feiern zum neuen Jahr stattfinden, hier oben herrschte Stille. Doch nach und nach versammelten sich jene, die wie er von einhundertundacht Schlägen der alten Glocke in der hohen Pagode die Befreiung von den einhundertundacht irdischen Leidenschaften erhofften.
    Sie hallten klangvoll durch die mondlose Nacht, als das Jahr der Erdziege anbrach.
    »In welchem Jahr seid Ihr geboren, Drago tai pan ?«, fragte der Abt, der still zu ihm getreten war.

    »Nach unserer Zeitrechnung im Jahre 1820, vor neununddreißig Jahren.«
    Vergnügt gluckste der Abt.
    »Ich nehme nicht an, dass Eure Eltern mit unserem Kalender vertraut waren?«
    »Nein, ganz gewiss nicht.«
    »Nun, dann mag das unerforschliche Wirken des Unbenennbaren selbst Euch Euren Namen verliehen haben. Ihr seid geboren im Jahr des eisernen Drachen. Bezähmt ihn, Drago tai pan .«
    Er zog es gar nicht erst in Erwägung, den Abt zu fragen, was er damit meinte. Er würde doch keine weitere Auskunft bekommen.
    Es war nur ein Rätsel mehr, das er selbst lösen musste – oder durfte.

Unerwartete Besuche
    Man kann unmöglich in der Welt leben, ohne von Zeit zu Zeit Komödie zu spielen.
     
    Nicolas Chamfort
    LouLous eigenartige Äußerungen beschäftigten mich noch eine ganze Weile, aber ich wollte mir natürlich nicht die Blöße geben, sie danach auszufragen. Außerdem konnte ich ihr im Grunde nicht böse sein. Sie hatte mir so viel geholfen, meine Entscheidungen unterstützt, mir Aufträge erteilt, mich weiterempfohlen, was sollte ich es ihr übel nehmen, wenn sie ihre Bitterkeit, ihre Enttäuschung und schlechte Laune an mir ausließ. Denn das steckte wahrscheinlich hinter den Äußerungen, die sie gemacht hatte. Mag sein, dass sie meinem nichtsnutzigen Gatten selig vor Jahren begegnet war – und wenn schon, was spielte das heute noch für eine Rolle? Selbst wenn sie Vermutungen über unsere nicht gerade gewöhnliche Beziehung zueinander angestellt oder irgendwelche Gerüchte aus ihren Kreisen gehört hatte – es war nicht mehr von Bedeutung. Wenn wir uns trafen, begegneten wir uns freundschaftlich, ihren Bruder erwähnte sie nicht mehr, und Marquardts Name fiel zwischen uns auch nicht wieder.
    Dieser Zwischenfall verlor gänzlich an Bedeutung, als die neuerliche Reise nach Münster vorbereitet werden musste. Das Weihnachtsfest selbst verlief mit den üblichen familiären Belustigungen, und ich war froh, den kalten und trüben Januar in meinem verhältnismäßig ruhigen Atelier zu verbringen. Bette, das Dienstmädchen, schleppte jeden Morgen ihre kleine Bankerttochter an, schob den Korbwagen in der Küche neben den Herd und erfüllte schweigend, langsam, wenn auch gutwillig,
die ihr aufgetragenen Pflichten. Für Gernot war ich aus eigenem Entschluss nicht mehr so häufig zu sprechen, und wenn, dann beschränkte ich unsere Treffen auf rein geschäftliche Angelegenheiten. Er machte keine Einwände und stellte auch keine Fragen.
    Der Salon Vaudeville hatte mit Beginn des Jahres die Konzession wieder erhalten und erfreute sich erneut großen Zuspruchs. Ich fragte LouLou nicht, ob sie den Vorgang beschleunigt hatte. Das war ihre Angelegenheit. Durch ihre Vermittlung hatte ich einige neue Kundinnen erhalten, deren gesellschaftlichen Status ich nicht zu genau zu hinterfragen wagte. Sie verfügten über beträchtliche Mittel, waren allesamt ausgesprochene Schönheiten und bedurften vielfach vorsichtigen Rats in Stilfragen. Ich arbeitete gerne mit kräftigen Farben, das ewige Pastell, das für die jungen Frauen der besseren Gesellschaft vorgeschrieben war, hatte ich nie besonders geschätzt, ebenso wenig matronenhaftes Braun oder Violett. Aber schillernd grüne Moireseide oder grellroten Taft weigerte ich mich ebenfalls zu verarbeiten. Überwiegend gelang es mir, die Damen zu überzeugen, und selbstverständlich pries ich die Stoffe nach meinen Musterentwürfen an.
    Nun war der Januar ins Land gegangen, die ersten Februartage hatten ein wenig Frost gebracht, aber heute war der Tag fast frühlingshaft, und die Sonne schaffte es sogar, einige Strahlen in mein Nähzimmer zu senden. Als die Türglocke ging, legte ich die Hand auf das Schwungrad der

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